Arthur Schnitzler - Literarischer Seelenforscher
In Träume anderer zu schlüpfen, Mitwisser von Geheimnissen des Unterbewusstseins zu werden und unbewusste Vorgänge so zu beeinflussen, dass sich das Leben eines Einzelnen und der Gesellschaft verändert - das hätte Arthur Schnitzler gefallen. Arthur Schnitzlers Blick sezierte die Menschen. Er durchdrang das Unterbewusste und brachte bittersüße Wahrheiten zu Tage – und aufs Papier. Er war Arzt, konnte aber besser schreiben als heilen. Subtil und treffend, witzig und traurig, ironisch, ernst und immer messerscharf formulierte Arthur Schnitzler bittersüße Wahrheiten. Es schien, als ginge er im Unterbewussten anderer auf Forschungsreisen. Eine Hommage an den Sprachkünstler.
Arthur Schnitzler - Frühe Tabus
Im Schlafzimmer der Eltern erfährt Arthur Schnitzler, dass sein Vater in seinem Tagebuch gelesen hatte. Peinlich genug, vertraut der junge Arthur doch nur diesem Buch seine Selbstwahrnehmungen und intimsten Wünsche an, auch sexuelle. Die Standpauke des Vaters ist gewaltig. Zur Strafe muss Arthur Schnitzler "die drei großen gelben Kaposischen Atlanten der Syphilis und der Hautkrankheiten durchblättern, um hier die möglichen Folgen eines lasterhaften Wandels in abschreckenden Bildern kennenzulernen.“
Offenbar ist die Erziehungsmaßnahme nicht abschreckend genug. Der Erotik gibt sich Schnitzler ein Leben lang hin - literarisch und körperlich gleichermaßen. Aber die Schnüffelei des Vaters treibt einen noch größeren Keil zwischen Vater und Sohn. Schnitzler vertraut dem Vater nicht. Die Beziehung zu ihm ist keine leichte. Schnitzler steht im Schatten des angesehen Kehlkopfspezialisten, der als Vater streng ist und emotionale Nähe und Verständnis vermissen lässt.
Arthur Schnitzler studiert nur auf dessen Drängen hin Medizin, arbeitet einige Jahre als Arzt. Aber mehr als verschnupfte Nasen interessieren ihn Neurosen und die menschliche Psyche überhaupt, über die er zwar eine wissenschaftliche Abhandlung verfasst, sie aber viel lieber literarisch anpackt.
Die Belle Epoque
Der am 15. Mai 1862 in Wien geborene Schnitzler wächst im Wien der Moderne auf, in der Belle Epoque, in der man sich im Zuge des Fortschritts in Sicherheit wähnt. Optimismus ist Pflicht. Es ist die Zeit des Rollenspiels. Dekorationen, ausladende Kronleuchter und Plüsch bestimmen das Wiener Bild. Die Bürger genießen das Leben im Sessel am Marmortisch mit einem kleinen Braunen zur Sachertorte.
Aber das ist nur glänzende Oberfläche. Aufbruch- und Endzeitstimmung liegen nah beieinander und katapultieren die Künstler um 1900 regelrecht in literarische Hochwelten. Wie viele Künstler seiner Zeit, geht auch Arthur Schnitzler in Wiener Kaffeehäusern ein und aus. Er schmökert in Zeitungen und Büchern, diskutiert mit Dichtern und Literaten oder textet in einem der Hinterstübchen. Dort entsteht beispielweise seine "Traumnovelle“, in der er die Tief- und Abgründe von Emotionen und Sehnsüchten in einer ganz normalen Ehe schildert: Arzt Fridolin und seine Frau Albertine gestehen sich ihre geheimen erotischen Träume ein. Das Paar gerät, so schreibt Schnitzler, "in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen“… „und nach einer raschen Wagenfahrt durch die weiße Winternacht sanken sie einander daheim zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme.“
Schnitzler spricht so unverblümt über die Liebe wie keiner vor ihm. So wundert es nicht, wenn das Publikum skandalisiert. Den "Reigen“ wird sogar der Pornographie bezichtet und erhält zeitweise Aufführungsverbot. In der Novelle skizziert Schnitzler, wie sich liebeshungrige, aber zu echter Liebe unfähige Menschen unterschiedlichster Gesellschaftsschichten die Klinke in die Hand geben und blind, sexgierig und sinnentleert dem Untergang entgegentanzen.
Arthur Schnitzler – ein Vordenker der Psychoanalyse?
Verbal attackiert Schnitzler die hinter aller Contenance versteckte Frivolität, Oberflächlichkeit und Eitelkeit des Wiener Bürgertums. Witz, Ernst, Ironie und Verbitterung gegen eine Gesellschaft, die über ihre moralischen Schandtaten und Melancholie den Schleier gebreitet hat, fließen aus seiner Feder. Dafür hassen ihn die Wiener. Seine Texte lieben sie trotzdem. Immerhin sind sie unterhaltsam und gut geschrieben.
Allgemeingültiges lässt der Künstler in individuellen Figuren aufleben, die sich und der Welt Gefasstheit und Glück vorgaukeln, dabei ständig bemüht, keine Schwächen und Sorgen zu zeigen. Schnitzler nimmt sich selbst davon nicht aus. Genau darin erkennt Heinrich Mann dessen Genius und dessen literarische Bedeutung. Schnitzler schreibe immer über Herzenssachen, auch eigene, erklärt er und fasst zusammen:
"Veredeltes 19. Jahrhundert ist Schnitzler; glaubenslos, einsam, resigniert und trotz allem heiter, warme Menschlichkeit im kalten Schicksal, gewitzter Geist mit so viel Anmut.“
Die persönliche Note, die Schnitzlers Texten anhaftet, fällt auch Sigmund Freud auf. Und zwar durchaus positiv. Zum 60. Geburtstag des "Herrn Doctor“ sagt er anerkennend:
"So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition - eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmungen - alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe.“
Für Freud ist Schnitzler ein "psychologischer Tiefenforscher“. Den Titel hat Schnitzler der erste Akt seines 1893 erschienenen Zyklus‘ "Anatol“ eingebracht, in dem er seine Leser auf die verschlungenen Wege des Unterbewussten führt. Der Zyklus erscheint einige Jahre bevor Freud so weit ist, ein Buch über ein entsprechendes Seelenthema, die Traumdeutung, herauszugeben. Er ist Freud also gewissermaßen voraus.
Träume beschäftigen Schnitzler stark, auch weil er die eigenen verstehen will. Vor allem die, in denen er sich vom verstorbenen Vater verfolgt sieht. Träume sind für Schnitzler Abbild einer Realität, die der Mensch aber nie zugeben würde: verdrängte Wahrheiten wie Untreue, erotische Eskapaden, Einsamkeit und Ängste. Im Drama "Der Schleier der Beatrice“ von 1902 spricht er von Träumen als "Begierden ohne Mut“, "freche Wünsche, die das Licht des Tags / Zurückjagt in die Winkel unserer Seele, / Daraus sie erst bei Nacht zu kriechen wagen“.
Schnitzlers Themen - Einsamkeit und Tod
Neben frechem Wünschen, sind Einsamkeit und Tod Schnitzlers Themen. Das zeigt unter anderem die 1900 erschienene Novelle "Leutnant Gustl“. Hier lässt Schnitzler den Leser mit dem "inneren Monolog“, einer bis dahin unausgereiften Technik, die Schnitzler virtuos in die deutsche Literatur einführt, direkt am seelischen Prozess der Figur teilhaben. Die Geschichte? Ein Bäckermeister beleidigt einen Leutnant. Wie früher üblich, kann nur ein Duell seine Ehre wiederherstellen. Leider kapiert der Leutnant zu spät, dass ihm der Bäckermeister körperlich überlegen ist und sieht nur einen Ausweg: den Selbstmord. Er spricht, wie ihm die Gedanken kommen. Freies Assoziieren, würde der Psychoanalytiker sagen:
"Ah, lieber gleich eine Kugel vor den Kopf, als so was!... Wär' so das Gescheiteste!... Das Gescheiteste? Das Gescheiteste? - Gibt ja überhaupt nichts anderes... gibt nichts anderes... jeder möcht' sagen: Es bleibt dir nichts anderes übrig!...“
Schnitzlers Texte verraten, wie er über die Welt denkt – größtenteils melancholisch. Er selbst fühlt sich einsam – trotz zahlreicher Liebeleien. Für ihn gibt es keine Liebe. Erst mit fast 40 Jahren überwindet er seine Bindungsangst und heiratet die Sängerin Olga Gussmann. Die Ehe scheitert; ob seine Frau nicht länger auf die eigene Karriere verzichten oder Schnitzlers Seitensprünge dulden will, ist nicht bekannt. Schnitzler kommt jedenfalls nicht darüber hinweg, dass ihn seine Frau verlassen hat. Als sich dann auch noch seine Tochter Lili im Alter von 18 Jahren das Leben nimmt, reihen sich psychische und physische Probleme aneinander. Am 21. Oktober 1931 stirbt Arthur Schnitzler an den Folgen einer Gehirnblutung in Wien. Und vielleicht auch an gebrochenem Herzen.