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Astrid Lindgren - Leben und Werk (Podcast 172)

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Am 28. Januar 2002 war die große Kinderbuchautorin Astrid Lindgren im Alter von 94 Jahren in Stockholm verstorben. Eine “Welle der Trauer” erfasste jedoch nicht nur Schweden. Ob groß oder klein, alle, die schon einmal mit Pippi auf großer Ballonfahrt gewesen waren, alle, die mit Michel nach einem Streich in den Holzschuppen geflüchtet sind und alle, die mitbekommen haben, wie Ronja sich im Wald mit Rumpelwichten herumschlägt, waren betroffen. Und das sind viele. In etwa 90 Sprachen wurden Astrid Lindgrens Bücher übersetzt, auch die Verfilmungen von Pippi, Michel und Co. erreichten ein kleines, großes Publikum. Grund genug einene genauen Blick auf Leben und Werk dieser Ausnahmeschriftstellerin "Astrid Lindgren – Frau von Löwenherz" zu werfen.

 

Das Astrid Lindgren Land

Ein kleiner Trost für die Schweden, unser aller Astrid Lindgren eben doch nicht exklusiv für sich beanspruchen zu können, könnte darin liegen, dass Lindgrens Werke unser Schwedenbild nachhaltig und positiv geprägt haben. Das Land mag eine hässliche, gewalttätige, auch nationalistische Seite haben, wie uns Berichte, zahlreiche Skandinavien-Krimis oder Stieg Larssons sehr erfolgreiche Millennium-Trilogie weismachen möchten; für uns bleibt es das Astrid Lindgren-Land, jenes Sehnsuchtsland, in dem die Häuser rot und aus Holz sind, die Winter tief verschneit, die Wälder verwunschen und die Sommer in goldenes Licht getaucht. Und vor allem das Land, in dem Kinder noch in der Natur toben und Abenteuer erleben dürfen, statt im Chinesisch- Kindersprachkurs zu sitzen.

 

Das entschwundene Land

Astrid Lindgren selbst hat dieses Land in ihren gleichnamigen Erinnerungen als "Das entschwundene Land“ bezeichnet; als das Land ihrer Kindheit. Diese hat sie, als Astrid Anna Emilia Ericsson, auf dem Bauernhof Näs nahe der schwedischen Stadt Vimmerby im schwedischen Småland verbracht. Gemeinsam mit Eltern, Geschwistern, Mägden, Knechten und Landstreichern. Die Figuren tauchen in einigen Lindgren-Büchern wieder auf. Bei den "Kindern aus Bullerbü“ zum Beispiel. Und natürlich bei "Michel aus Lönneberga“, einem Lieblingscharakter Lindgrens, der im schwedischen Original Emil heißt.

Die Erinnerung an ihre Kindheit bezeichnet Lindgren als große Inspirationsquelle:

"Man muss gar keine eigenen Kinder haben, um Kinderbücher schreiben zu können. Man muss nur selbst einmal Kind gewesen sein - und sich dann erinnern können, wie das ungefähr war.“

 

Die gar nicht so heile Welt

So idyllisch wie sie selbst, dürfen nicht alle ihrer kleinen Protagonisten aufwachsen. Manche, wie der Waisenjunge Bosse aus "Mio, mein Mio“, der totkranke Krümel aus "Die Brüder Löwenherz“ und selbst Pippi, die immerhin stärker ist als der stärkste Mann im Zirkuszelt, werden früh mit der traurigen Seite des Lebens konfrontiert. Mit Krankheit, Tod und Einsamkeit.

Viele ihrer Charaktere rebellieren zudem gegen ihre bürgerliche, von gesellschaftlichen Normen geprägte Umgebung und machen sich die Welt lieber widewide wie sie ihnen gefällt. Wie wurde Lindgren zu diesen Charakteren inspiriert? Eine Antwort darauf findet sich in der Zeit zwischen der eigenen Kindheit und der Lebensphase in der sie als grauhaarige, weltbekannte Kinderbuchautorin vor unserem geistigen Auge erscheint.

 

Das Ende der Kindheit?

Astrids Leben änderte sich abrupt, als sie mit 19 Jahren ungewollt schwanger wurde. Sie verließ das ländliche Paradies, zog nach Stockholm, arbeitete dort als Stenotypistin und brachte ihren Sohn Lars, genannt Lasse, heimlich in Kopenhagen zur Welt, wo er seine ersten Jahre bei Pflegeeltern verbrachte.

Lindgrens Traurigkeit darüber, Lasse keine unbeschwerte Kindheit bieten zu können, inspirierte sie später zu einigen Geschichten. Ohne Eltern aufzuwachsen bietet in Lindgrens Werken immer Raum für Freiheit, Eigenständigkeit, Selbstbestimmtheit und natürlich Phantasie. Und doch schwingt in ihren ironischen und humoristischen Geschichten oft  leise Melancholie mit. Beim Erzählanfang von Pippi zum Beispiel:

"Am Rand der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt und sie wohnte ganz allein dort. Sie hatte keine Mama und keinen Papa, und eigentlich war das sehr schön, denn so gab es niemanden, der ihr sagen konnte, dass sie schlafen gehen sollte, wenn sie gerade mitten im schönsten Spiel war, und niemand, der sie zwingen konnte, Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte.“

 

Die Geburt von Pippi

1930 konnte Astrid ihren Sohn endlich zu sich nach Stockholm holen. Sie heiratete Sture Lindgren und bekam die gemeinsame Tochter Karin. Dieser gebührt übrigens der Ruhm, die wahre Erfinderin von Pippi Langstrumpf zu sein. Denn als die siebenjährige Karin im Winter 1941 mit einer Lungenentzündung krank im Bett lag bat sie ihre Mama, ihr doch von Pippi Langstrumpf zu erzählen. Die fragte nicht weiter nach sondern erfand das nonkonforme, rebellische Mädchen. Zu Papier bringen wollte Lindgren die Geschichte zuerst nicht, schließlich hatte sie sich früh geschworen, niemals Schriftstellerin zu werden.

"Schon in meiner Schulzeit erhoben sich warnende Stimmen: 'Du wirst mal Schriftstellerin, wenn du groß bist.' […] Das entsetzte mich derart, daß ich einen förmlichen Beschluß faßte: Niemals würde ich ein Buch schreiben. […] ich hielt mich nicht für berufen, den Bücherstapel noch höher anwachsen zu lassen.“

"Doch dann kam dieser Schnee, der die Straßen glitschig wie Schmierseife machte. Ich fiel hin, verstauchte mir den Fuß, mußte liegen und hatte nichts zu tun. Was tut man da. Schreibt vielleicht ein Buch. Ich schrieb Pippi Langstrumpf.“

Das Pippi-Manuskript schickte Lindgren an den schwedischen Bonnier-Verlag, der es jedoch ablehnte. So eine freche, naseweise Person könne man doch nicht auf Kinder loslassen! Dem Verlag Raben & Sjögren war die Geschichte eigentlich auch zu provokativ, nachdem Lindgren mit ihrem zweiten Buch "Britt-Mari erleichtert ihr Herz“ jedoch den zweiten Preis eines Wettbewerbs für Kinderliteratur gewonnen hatte, nahmen sie die Veröffentlichung  von Pippi schließlich am 13. September 1945 an. In der entschärften Version versteht sich.

Das ursprüngliche Manuskript, die "Ur-Pippi“, erschien erst 2007 zum 100. Geburtstag Lindgrens. Doch auch die überarbeitete Version sorgte seinerzeit für reichlich Zündstoff und entfesselte eine hitzige Diskussion in den schwedischen Zeitungen, ob Pippi, die nichts von der Schulpflicht hielt, die stark, frech und finanziell unabhängig war und damit gängige Rollenklischees für eine Mädchen einfach auf den Kopf stellte, tatsächlich als Kinderbuchheldin geeignet war.

Lindgren selbst sagte einmal über Pippi:

"Wenn Pippi Langstrumpf jemals eine Funktion gehabt hat, außer zu unterhalten, dann war es die, zu zeigen, dass man Macht haben kann und sie nicht missbraucht. Und das ist wohl das Schwerste, was es im Leben gibt.“

 

Die Brüder Löwenherz

Die nächste Diskussion um eines ihrer Werke entbrannte  1973, als "Die Brüder Löwenherz“ erschienen. In dieser Parabel über den Tod erfährt der zehnjährige Karl, genannt Krümel gleich zu Beginn der Geschichte, dass er todkrank ist. Er wird von seinem älteren Bruder Jonathan mit der Aussicht getröstet, dann nach Nangiljana zu kommen, einem wunderbaren Land voller Abenteuer, wo abends Geschichten am Lagerfeuer erzählt werden. Als dann Jonathan überraschend als erster der beiden durch ein Feuer stirbt, folgt Krümel ihm bald darauf nach Nangiljana nach, wo die beiden Brüder Seite an Seite für das Gute kämpfen.

Neben dem damals sehr modernen Vorwurf der Fluchtliteratur, wurde Lindgren vor allem dafür stark kritisiert, das Thema Tod überhaupt in einem Kinderbuch behandelt zu haben. Es war Astrid Lindgrens Überzeugung, ernste und große Themen nicht von Kindern fernzuhalten, sondern sie damit zu konfrontieren und ihnen gleichzeitig die Phantasie als Schutz mit auf den Weg zu geben.

Erwachsene mögen Debatten über das Buch geführt oder bei Vorlesen der Geschichte schon auf den ersten Seiten Tränen in die Augen bekommen haben, viele Kinder schöpften Trost aus der Geschichte. "Die Brüder Löwenherz“ wurden und werden in vielen Kinderkliniken vorgelesen, um den Patienten die Angst vor dem Tod zu nehmen. Es ist wohl der größte Verdienst Astrid Lindgrens Kinder immer ernst genommen und sie verstanden zu haben. Was auch daran liegen mag, dass sie sich selbst häufig als "barnslig“, als kindlich, bezeichnet hat.

 

Politisches Engagement

Gleichzeitig beteiligte sich Lindgren zeitlebens feurig an politischen Diskussionen, nahm früh Stellung gegen den Nationalsozialismus, diskutierte über die Höhe schwedischer Steuern und setzte sich vor allem für die Rechte der Schwachen ein, für Tiere und Kinder.

1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und verurteilte in ihrer berühmten Dankesrede "Niemals Gewalt“ Eltern, die Kinder schlagen. Vor einem konservativen Publikum und obwohl damals in Deutschland noch das "Elternrecht auf körperliche Züchtigung“ herrschte.

Den alternativen Literaturpreis hat Astrid Lindgren ebenfalls bekommen, den "richtigen“ nie. Schließlich schrieb sie ja nur Kinderbücher. Dafür erhielt sie bis an ihr Lebensende jeden Tag säckeweise Post von ihren Fans auf der ganzen Welt. Inzwischen sitzt Astrid Lindgren schon seit zehn Jahren in Nangijala am Lagerfeuer und erzählt großen und kleinen Neuankömmlingen Geschichten. Ein tröstlicher Gedanke.

 

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