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Studium: Wen stresst der Studienanfang stärker?

Das Abitur ist geschafft – und nun? Die meisten Abiturienten entscheiden sich für ein anschließendes Studium, das gilt insbesondere für Kinder aus Akademikerhaushalten. Doch wie ist das Gefühl bei diesem Übergang in die neue Welt des Uni-Lebens? Wissenschaftler haben untersucht, für wen der Beginn eines Studiums mehr Stress bedeutet: für junge Menschen aus Akademikerfamilien, die sozusagen die Familientradition fortsetzen, oder für solche, die die ersten Studierenden ihrer Familie sind.
NPO / Ruhr-Universität Bochum, 26.06.2020

An der Universität herrschen andere Regeln. Neben ersten Kontakten und der Orientierung müssen die Studienanfänger auch die Organisation ihres Studiums bewältigen.

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Etwa die Hälfte aller Schulabgänger in Deutschland machen Abitur und erlangen damit die Hochschulreife – sie dürfen nun studieren. Die meisten tun dies auch. Damit jedoch beginnt für sie eine ganz neue Phase ihres Lebens. An der Universität herrschen andere Regeln, man muss mit neuen Leuten und neuen Lernformen zurechtkommen. Nicht wenige müssen fürs Studium auch in eine neue Stadt ziehen.

Stress und Druck für Studienanfänger

Aber wie stressig ist dieser Übergang in die neuen Lebensphase? Das wollten Nina Minkley von der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und ihr Kollege Alex Bertrams von der Universität Bern genauer wissen. Ihre Frage: Wer wird mehr Stress beim Beginn eines Studiums empfinden: Kinder aus Akademikerhaushalten oder Jungstudierende, die aus Nicht-Akademikerfamilien kommen?

Beweggründe für erhöhten Stress gibt es für beide Gruppen: "Studierende aus Nicht-Akademiker-Haushalten könnten Probleme haben, sich in das soziale Umfeld an der Universität einzufügen", erklären Minkley und Bertrams. Denn sie haben eher das Gefühl, sozial nicht "hineinzupassen" und müssen sich erst an das typisch akademische Umfeld gewöhnen. Hinzu kommt, dass sie auch eher Versagensängste haben, das Gefühl, sie seien eh nicht gut genug.

Aber auch Akademikerkinder können durchaus unter Druck stehen. Ihnen sind zwar das akademische Milieu und der Jargon eher vertraut und sie haben schon vorher genügend Möglichkeiten, sich bei ihren Eltern Rat zu holen. Andererseits aber stehen auch sie unter starkem Erfolgsdruck: "Für diese Personen und ihre Familien wäre eine Entscheidung gegen ein Studium ein Statusverlust", erklären die Forscher. "Deshalb neigen Akademikerkinder ehr dazu, sich an einer Universität einzuschriebe3n, selbst wenn ihre Fähigkeiten und Erfolgserwartungen eher gering sind."

Haare als Stressanzeiger

Das bedeutet: Beide Gruppen stehen unter Umständen unter erhöhtem Erfolgsdruck und das macht Stress – aber wie viel? Um herauszufinden, ob und wie sich das Stresslevel bei jungen Menschen mit verschiedenen familiären Hintergründen zum Studienbeginn unterscheidet, hat das Forschungsteam 71 Studierende im ersten Semester untersucht. Ziel war es herauszufinden, wie hoch das durchschnittliche Niveau des Stresshormons Cortisol bei diese Studierenden war.

Dieses Hormon wird in Stresssituationen vermehrt vom Körper ausgeschüttet und es lagert sich auch in den Haaren ab. Untersucht man die Haare, kann man daran erkennen, in welchen Phasen eine Person vermehrt Stress hatte.  Genau diese Methode wählten Minkley und Bertrams daher für ihre Studie. "Die einzigen Einschlusskriterien waren daher, dass sie im ersten Semester sein mussten, und dass sie ausreichend langes Haar hatten", erklärt Minkley. „Letzteres hat dazu geführt, dass wir fast nur Frauen rekrutieren konnten.“

Die Probandinnen stellten dem Forschungsteam je drei dünne Haarsträhnen zur Verfügung, die nahe der Kopfhaut abgeschnitten wurden. Da ein Haar etwa einen Zentimeter pro Monat wächst, untersuchten die Forscher die neuesten anderthalb Zentimeter, die in den sechs Wochen seit Studienbeginn gewachsen waren. Darüber hinaus füllten die Teilnehmerinnen Fragebögen aus, in denen sie unter anderem Auskunft über den Bildungsgrad ihrer Eltern gaben. Auch über den von ihnen selbst wahrgenommenen Stress wurden sie befragt.

Wie stressig ist der Übergang in die neuen Lebensphase?

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Überraschendes Ergebnis

Die Auswertungen ergaben: Studienanfängerinnen aus Akademikerhaushalten hatten höhere Stresslevel als solche aus Nicht-Akademikerhaushalten. Die Cortisolwerte in ihren Haaren waren deutlich höher. Dieser Unterschied war selbst bei den Studentinnen messbar, die nach ihrem selbst wahrgenommenen Stressniveau gleich viel Stress empfunden hatten, wie das Forschungsteam berichtet.

Demnach ist der Stress, die Familie zu enttäuschen und als erste in der Tradition zu "versagen" offenbar deutlich größer als der Stress von Nicht-Akademikerkindern, die sich an die für sie völlig neue Welt der Akademiker gewöhnen müssen. "Die Betroffenen stehen unter einem hohen Erfolgsdruck, die Familientradition fortzuführen. Wenn sie dann das Studium vielleicht begonnen haben, obwohl ihre Fähigkeiten oder Motivation dafür eigentlich nicht ausreichend sind, bedeutet dies für sie Stress und Druck", so das Team. Anders für die Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten: "Sie sind möglicherweise deshalb weniger gestresst, weil sie und ihre Familien ja im Prinzip nichts zu verlieren haben, aber einen Akademikerstatus gewinnen", so Minkley und Bertrams.

Nach Ansicht des Forschungsteams spielt die soziale Herkunft demnach nicht nur dafür eine Rolle, ob jemand überhaupt zur Universität geht, sondern auch, wie es den Studienanfängern dann in ihren Wochen und Monaten an der Universität ergeht. Wie gut allerdings die Einzelnen mit diesem Stress dann umgehen und wie stark sie die jeweilige Belastung auch subjektiv empfinden, hängt dann wieder von der Persönlichkeit, den Alltagsumständen und vielen weiteren Faktoren ab.

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