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Tourette-Syndrom: Leben mit den Tics

Sie ziehen Grimassen, stoßen Schimpfworte oder seltsame Laute aus oder machen abrupte Bewegungen: Menschen mit dem Tourette-Syndrom können solche unwillkürlichen "Tics" nicht kontrollieren – und auch heilbar ist ihre neurologische Erkrankung nicht. Dennoch stoßen sie in der Gesellschaft oft auf Unverständnis und Ablehnung, sie werden wegen ihrer Tics stigmatisiert. Doch was genau ist das Tourette-Syndrom? Wie lebt es sich mit der Erkrankung und wie kann man die Tics lindern?
AMA, 07.06.2023
Symbolbild Tics

© sdominick, GettyImages

„Tourette“ steht für das „Gilles de la Tourette-Syndrom“. Der Name soll an den französischen Arzt erinnern, der die neuro-psychiatrische Erkrankung im Jahr 1885 erstmals ausführlich beschrieben hat. Das Tourette-Syndrom ist gekennzeichnet von sogenannten Tics: kurzen, schnellen Bewegungen oder Lauten, die Betroffene immer wieder ausführen und nur bedingt kontrollieren können. Oft sind diese Tics im Kindes- und Jugendalter besonders ausgeprägt, mit dem Erwachsenwerden können sie nachlassen oder sogar ganz verschwinden – aber das ist nicht immer das Fall.

Laut Interessenverband Tic & Tourette Syndrom leben in Deutschland über 805.000 Menschen mit dem Tourette-Syndrom – das entspricht ungefähr einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Um das Wissen über diese neurologische Störung auch in der breiten Bevölkerung zu verbessern und Vorurteile abzubauen, wurde der 7. Juni zum „Europäischen Tag zur Sensibilisierung für das Tourette-Syndrom“ erklärt.

Wie sehen Tics aus?

Es gibt zwei Arten von Tics: motorische und vokale. Unter motorischen Tics versteht man plötzlich auftretende, sich wiederholende Bewegungen – häufig in der Form von Augenblinzeln, Grimassen ziehen, Naserümpfen oder Kopfrucken. Auch komplexere motorische Tics, die mehrere Muskelgruppen betreffen, sind möglich. Betroffene springen oder hüpfen dann zum Beispiel, reißen ihren Arm hoch oder drehen sich im Kreis. 

Vokale Tics hingegen sind unabsichtliche Lautäußerungen wie Räuspern, Husten oder Schniefen. In seltenen Fällen sprechen Menschen mit Tourette auch unwillkürlich ganze Wörter oder Schimpfwörter aus, doch diese „Koprolalie“ ist kein essenzielles Merkmal des Tourette-Syndroms. Das Bild des laut fluchenden Tourette-Erkrankten ist also eher eine Schöpfung von Film und Fernsehen.

Motorischen und vokalen Tics gemeinsam ist, dass sie zufällig auftreten und deshalb in der Öffentlichkeit oder in einem Gespräch schnell unpassend und verwirrend wirken. Welche Tics vorkommen und wie schwer diese ausfallen, ist allerdings bei jedem Betroffenen unterschiedlich. Man spricht deshalb bei Tourette auch von einer Spektrum-Erkrankung.

Doch selbst bei einem einzelnen Tourette-Betroffenen schwanken die Tics im Laufe der Zeit, betreffen etwa mal andere Muskeln, sind mal komplexer, mal häufiger, mal seltener. „Die Schwankungen treten spontan auf, also völlig unabhängig von äußeren Einflussfaktoren. Eine Vorhersage über die Dauer derartiger ‚guter‘ oder ‚schlechter‘ Phasen ist nicht möglich“, erklärt die Tourette-Gesellschaft Deutschland. Während die Tics bei den meisten Menschen nach der Pubertät aufhören, halten sie bei anderen ein Leben lang an.

Symbolbild Tics
Einfache motorische Tics sind plötzlich auftretende, zweckfreie, sich wiederholende Bewegungen, die am häufigsten an Gesicht und Kopf auftreten und deshalb oft als Nervosität, Gereiztheit oder Eigenart fehlinterpretiert werden.

© g-stockstudio, GettyImages

Kann man Tics unterdrücken?

Tourette-Erkrankte können ihre Tics nur bedingt kontrollieren. Das lässt sich für Nicht-Betroffene am ehesten mit einem Niesen oder Schluckauf vergleichen. Tics lassen sich zwar manchmal herauszögern oder sogar unterdrücken, aber dies gelingt nur mit bewusster Anstrengung und nicht auf Dauer. Jugendliche und Erwachsene mit dem Tourette-Syndrom berichten davon, dass sie das Anbahnen eines Tics als eine Art inneren Druck oder Wärmegefühl an der entsprechenden Stelle wahrnehmen. Unterdrücken sie einen Tic, ist dieses Vorgefühl beim nächsten Tic typischerweise intensiver.

Welche weiteren Symptome gibt es?

Ebenfalls typisch für Tourette ist, dass es häufig mit sogenannten „Komorbiditäten“, also Begleitsymptomen oder -erkrankungen einhergeht. „Ein Tourette-Syndrom ohne Komorbiditäten besteht nur etwa bei zehn bis 20 Prozent der Patienten“, berichtet die Medizinische Hochschule Hannover. Bei Kindern und Jugendlichen geht Tourette in der Hälfte der Fälle mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) einher und in 30 Prozent der Fälle mit einer Zwangsstörung.

„Studien zur Lebensqualität von Kindern mit Tourette-Syndrom haben gezeigt, dass eine ADHS und eine Zwangsstörung meist zu einer weitaus stärkeren Beeinträchtigung führen als die Tics. Daher müssen diese Symptome besonders beachtet und wenn notwendig behandelt werden“, so die Hochschule weiter. Als weitere Begleitsymptome gelten Schlafstörungen, Depressionen, Lernstörungen und Störungen des Sozialverhaltens. Bei Erwachsenen sind es meist depressive Symptome und Zwänge, die sich schlimmer auswirken als die Tics an sich.

Wie entsteht Tourette?

„Auch wenn in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte in der Erforschung des Tourette-Syndroms erzielt wurden, so ist die Ursache nach wie vor ungeklärt“, erklärt die Tourette-Gesellschaft Deutschland. Allerdings gilt Tourette in großen Teilen als genetisch bedingt. Im Jahr 2017 haben Forschende vier Gene identifiziert, die bei betroffenen Kindern auffällig oft verändert sind. Zusammen erhöhen solche Varianten in diesen vier Genen das Risiko für eine Tourette-Erkrankung um 70 bis 90 Prozent.

Allerdings können diese Genveränderungen bisher nur rund zwölf Prozent aller Tourette-Fälle erklären. Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass es noch weitere, bisher unentdeckte genetische Auslöser geben muss. Diese beeinflussen vermutlich die Hirnentwicklung und das Botenstoff-System, was wiederum die Kontrolle über Laute und Bewegungen beeinträchtigt.

Wie diagnostiziert man Tourette?

Um die Diagnose Tourette zu erhalten, müssen Betroffene vor ihrem 18. Geburtstag mindestens ein Jahr lang mehrere unterschiedliche motorische und vokale Tics aufweisen. Tritt nur eine der beiden Tic-Kategorien auf, erhalten Betroffene stattdessen die Diagnose einer chronische Tic-Störung. Jungen sind von Tourette deutlich häufiger betroffen als Mädchen, im Erwachsenenalter ist das Geschlechterverhältnis hingegen wieder weitestgehend ausgeglichen.

Lässt sich die Krankheit behandeln?

Da die Tics bei den meisten Betroffenen nach der Pubertät von selbst verschwinden, werden diese im Kindes- und Jugendalter in der Regel nicht behandelt. Im Vordergrund der Behandlung stehen stattdessen die verschiedenen Komorbiditäten wie ADHS oder Depressionen. Auch geht es eher darum, das familiäre und schulische Umfeld für die Tics zu sensibilisieren, um den psychischen Leidensdruck der Tourette-Erkrankten zu mildern.

„Viele Nicht-Betroffene können sich nicht vorstellen, dass diese Handlungsweisen und Lautäußerungen tatsächlich unwillkürlich und krankheitsbedingt sind, zum Beispiel da die Betroffenen zumindest zeitweise eine Kontrolle über ihre Tics erlangen können. Manche Personen fühlen sich durch die Tics provoziert“, erklärt die Tourette-Gesellschaft Deutschland. „Anderseits sind viele Betroffene gut sozial integriert, sofern die Symptomatik nicht zu ausgeprägt ist oder sie in einem aufgeklärten Umfeld aufwachsen.“

Leiden Betroffene auch im Erwachsenenalter noch an Tics, lassen sich diese zum Beispiel mit verhaltenstherapeutischen Verfahren behandeln. So üben Betroffene etwa beim „Habit Reversal Training“ ein alternatives Verhalten statt des Tics ein. Sie lernen also, das Vorgefühl eines Tics bewusst wahrzunehmen, und dann gezielt eine andere Bewegung durchzuführen, die sich anatomisch nicht mit dem Tic vereinbaren lässt.

 

Bei der „Exposure and response prevention“ hingegen sollen Patienten lernen, dass einem Vorgefühl nicht zwingend ein Tic folgen muss, um so den Tourette-Automatismus zu unterbrechen. Beide Verfahren lassen die Tics zwar nicht komplett verschwinden, reduzieren sie aber immerhin um ein Drittel. Sollen die Tics (zusätzlich) medikamentös behandelt werden, kommen meist sogenannte Neuroleptika zum Einsatz. Die Mittel dämpfen die Nervenaktivität und reduzieren so ebenfalls die Zuckungen.

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