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Warum junge Leute so ungern telefonieren
„Ich gehe nie ans Telefon, außer es ist meine Mama oder ein Notfall, wie ein Überraschungstest in der Schule oder ein Freund, der wegen irgendetwas ausflippt“, sagt die 15-jährige Léa. Was für viele ältere Generationen unverständlich ist, ist für junge Leute der Generation Z und der Generation Alpha normal.
Für sie ist das Telefonieren nur noch eine Ausnahme: Sie rufen einander nur in Notfällen an oder wenn es dem Gegenüber schlecht geht und er Unterstützung oder Trost braucht. Einen Freund „mal eben“ anzurufen oder bei Krankenkasse, Behörden und Ämtern telefonisch nach Informationen zu fragen, ersetzen Teenager oft durch eine Text- oder Sprachnachricht per WhatsApp oder eine E-Mail. Aber warum?
Wenig Bedenkzeit
„Einen Anruf anzunehmen bedeutet, hier und jetzt verfügbar zu sein, ohne Sicherheitsnetz und ohne Verzögerung“, erklärt Kommunikationswissenschaftlerin Anne Cordier von der Université de Lorraine in „The Conversation“. „Viele Teenager empfinden diese Unmittelbarkeit als stressig, als Verlust der Kontrolle. Man hat keine Zeit, darüber nachzudenken, was man sagen möchte. Man könnte stottern, zu viel oder zu wenig sagen, sich schlecht ausdrücken oder unvorbereitet sein.“
Einen Anruf nicht anzunehmen, hat also nichts mit Faulheit zu tun. „Es geht vielmehr um das Bedürfnis nach Freiraum, um das Aufschieben des Austauschs, um dessen Steuerung entsprechend den eigenen emotionalen Ressourcen im jeweiligen Moment“, sagt Cordier. Denn eine Nachricht schriftlich zu überbringen, ermöglicht es den jungen Leuten, den Text zu überarbeiten, nochmal komplett neu zu schreiben oder ihn erst zu einem passenderen Zeitpunkt zuzustellen und zu verfassen.
Nicht-Rangehen aus Selbstschutz
Für junge Leute ist das Nicht-Annehmen eines Anrufs eine bewusste Entscheidung. In unserer hypervernetzten Welt, in der jeder jederzeit und über alle möglichen Kanäle erreichbar sein soll, setzen sie damit auch gezielt Grenzen. Über WhatsApp und Social Media sind sie ohnehin permanent erreichbar – daher empfinden sie Anrufe oft als zusätzlichen, unerwünschten Druck.
„Nicht sofort (oder gar nicht) zu antworten, ist nicht unbedingt ein Zeichen von Ablehnung oder Desinteresse. Manchmal ist es einfach eine Möglichkeit, durchzuatmen, sich neu zu konzentrieren und seinen mentalen Freiraum zu schützen. Es ist eine Form von Selbstachtung“, sagt Cordier
„Hast du Zeit für einen Anruf?“
„Meine Freunde wissen, dass ich nicht sofort antworte“, sagt der 16-jährige Lucas. „Sie schicken mir zuerst einen Snap, etwa mit der Frage: ‚Hast du Zeit für einen Anruf?‘.“ Tun sie dies nicht, geht Lucas auch nicht ans Telefon. Dieses Ritual steht für einen Wandel im Kommunikationsverhalten, meint Cordier. Ein spontaner Anruf kann bei den jüngeren Generationen heute schon als Bruch der digitalen Etikette gelten. Als respektvoll gelte es hingegen, den passenden Moment für ein Telefonat abzuwarten und vorher um Erlaubnis zu fragen beziehungsweise einen Termin fürs Telefonieren zu vereinbaren.
„Diese Regeln definieren die Konturen dessen neu, was man als ‚digitale Höflichkeit‘ bezeichnen könnte. Während ein Anruf früher als Zeichen der Fürsorge galt, wird er heute möglicherweise als aufdringlich empfunden“, erklärt die Kommunikationswissenschaftlerin.
Nicht weniger, sondern besser kommunizieren
Statt zu telefonieren, greifen junge Menschen für praktische Informationen lieber zu Textnachrichten. Um Gefühle auszudrücken und um längere Botschaften schneller zu übermitteln, als sie umständlich abtippen zu müssen, nutzen sie Sprachnachrichten. Bei älteren Generationen stößt das auf Unverständnis.
Aber wie können Eltern mit diesen „Eigenarten“ ihrer Kinder umgehen? Cordier empfiehlt, mit ihnen über ihre Vorlieben zu sprechen. Beispielsweise sollten Eltern mit ihren Kindern absprechen, wann ein Anruf in Ordnung ist: nur in Notfällen oder auch bei einer kurzen Frage? Soll vor jedem Telefonat trotzdem erst eine Nachricht geschickt werden?
„Anstatt das Ganze als Kommunikationskrise zu betrachten, sollten wir es vielleicht als Chance sehen, die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen, neu zu erfinden“, sagt Cordier. „Spannungen können abgebaut und eine ruhigere Form der Kommunikation mit Teenagern aufgebaut werden, wenn Erwachsene anerkennen, dass sich die Regeln geändert haben und dass dies keine große Sache ist. Schließlich verlangen Teenager von uns nicht, weniger zu kommunizieren, sondern besser zu kommunizieren.“