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Atlantis des Nordens: Auf den Spuren von Rungholt

Der Sage nach versank Rungholt als Gottesstrafe in den Fluten. Die einst blühende Stadt an der Nordsee ging 1632 in einer Sturmflut unter, die das gesamte Gesicht der Küste veränderte. Heute liegt dort, wo Rungholt einst lag, nur noch Meer und Watt. Doch Spuren des sagenhaften Orts sind heute noch zu finden – beispielsweise bei einer Wattwanderung.
Nordseetourismus, 09.05.2016

"Ich nehme Sie heute mit auf eine Zeitreise", sagt Wattführerin Christine Dethleffsen. Sie steht auf dem Deich bei Fuhlehörn auf Nordstrand und blickt auf das Wattenmeer, das Wasser läuft ab, erste höher liegende Wattbereiche fallen trocken. Im Westen ist die Hallig Südfall zu erkennen. "Es geht ins Mittelalter. In die Zeit der Hanse", erklärt die zertifizierte Nationalparkwattführerin. Denn sie führt Gäste nach Rungholt – dem legendären Ort, der in einer verheerenden Orkanflut vor mehr als 650 Jahren unterging. 

Blick über das nordfriesische Wattenmeer mit Südfall und Nordstrand, genau in der Bildmitte liegen die Überreste von Rungholt.licenses/by-sa/3.0/deed.en
Der große Untergang

Rungholt war bis ins späte Mittelalter wahrscheinlich ein ganz normales Hafenstädtchen, idyllisch gelegen auf einem flachen Landstück nördlich der heutigen Hallig Südfall. Seine Bewohner betrieben Landwirtschaft, stachen Torf und schützten ihre Gehöfte, wie überall an der Nordsee üblich, durch Deiche und Warften gegen die Flut.

Doch im Januar 1362 halfen den Rungholtern auch diese Schutzwälle nichts mehr: Drei Tage lang wütete damals die Zweite Marcellusflut, auch "Grote Manndränke" genannt an der Nordseeküste. Die Gewalt der Flut veränderte die Gestalt der gesamten Nordseeküste: Meeresarme drangen weit ins Marschland vor, gewaltige Buchten entstanden, Inseln zerbrachen und gingen unter, Halbinseln wurden zu Inseln. Riesige Flächen des Marschlandes versanken in den Fluten.

Unter ihnen war auch das Gebiet um den Ort Rungholt: Er ging in der großen Flut unter und wurde für immer ein Teil des Meeres. Der Sage soll dies ein "Gottesgericht" für die reiche, aber sündige Stadt gewesen sein. Es heißt, Bewohner der Stadt hätten sich über einen Priester lustig gemacht, der daraufhin Gott um Hilfe und Rache anflehte. Und die Antwort kam prompt. Ein Traum warnte ihn in noch in der gleichen Nacht, auf einen Hügel zu fliehen, weil Rungholt untergehen werde – was dann ja auch geschah.

Bis zu seinem Untergang im Jahr 1632 lag Rungholt auf einer Halbinsel.

historisch

Zurück in die Vergangenheit

Auch wenn diese Geschichte wohl eher ein Märchen ist, zeigen Funde im Watt, dass in dieser Gegend tatsächlich mindestens eine Siedlung untergegangen sein muss. Im Gebiet zwischen Südfall und Pellworm wurden über die Jahre immer wieder Funde aus dem Wattenmeer geborgen, die dem Leben der damaligen Zeit zuzuordnen sind - von Teilen einer Schleuse bis hin zu spanisch-maurischer Keramik. Immer wieder werden bei Wattwanderungen Relikte vom Leben der damaligen Zeit gefunden – und manchmal sogar ein menschlicher Schädel.

Die Wanderung über das Watt führt daher nicht nur in die Zeit zurück, sondern auch über eine Landschaft, die einst unterging – und zweimal am Tag bei Niedrigwasser ein wenig wieder aufersteht.  "Wir können die große Runde dorthin nur machen, wenn Nipptide ist – das Wasser also besonders tief abläuft. Sonst sind manche Gebiete überhaupt nicht zu erreichen. Entweder sie tauchen gar nicht auf oder die Priele, die wir auf dem Weg dorthin überqueren müssen sind viel zu tief", erklärt Dethleffsen

Einstiges Kulturland mitten im Watt

Auf festem Watt geht es im Zick-Zack gen Westen, den direkten Weg versperren Priele. Es sind insgesamt 14 bequem zu gehende Kilometer. Die Gruppe erreicht den Tonnenstein, der den Eintritt in das Gebiet ehemaliger Warften markiert. "Warften sind künstlich aufgeworfene Wohnhügel", erklärt Christine Dethleffsen. "Sie ragten auch bei Sturmflut noch aus der tobenden Nordsee – dorthin haben sich Mensch und Vieh immer vor dem zu hohen Wasser retten können."

Nur 1362 nicht mehr – dann kam die alles ertränkende "Marcellusflut". Die Wohnhäuser von damals sind längst verschwunden, die Warften aber konnte die Nordsee bis heute nicht ganz abrasieren. Der geübte Blick erkennt sie schnell im abgelaufenen Watt. "Wir laufen über altem Kulturland, man muss das wissen und ganz genau hinschauen." Laufen und Pausieren, Zuhören und Staunen. Der Blick reicht nach Südwesten an Hallig Südfall vorbei. Nun hat sich die Wattstruktur verändert: Sandbänke sind zu erkennen, die Nivellierung hat sich insgesamt erhöht.

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