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Gullivers Reisen von Jonathan Swift: Eine gnadenlose Satire

In welcher Tradition steht »Gullivers Reisen«?

Der Ire Jonathan Swift (1667–1745) bezog sich mit seinem 1726 erschienenen vierteiligen Roman kritisch-parodistisch auf die Literaturform der Reiseberichte, die zu seiner Zeit populär waren. Oft als Tatsachenschilderung ausgegeben, glänzten sie vor allem durch fantastische Ausschmückung. Dass »Gulliver« sofort großen Anklang bei Lesern aller Schichten und Altersstufen fand, verdankte der Roman denn auch weniger dem satirischen Elan Swifts, als dem Erfindungsreichtum des Autors, der alle Vorläufer in den Schatten stellte. Der arglose Gulliver (dessen Name auf das englische »gullible«, auf Deutsch »leichtgläubig« anspielt) gerät auf seinen Reisen in immer irrwitzigere Gegenden der Welt, was sein Vertrauen in die Normalität und schließlich in das Gute im Menschen untergräbt.

Welche Stationen besucht der Held auf seiner Reise?

Erste Station ist nach einem Schiffbruch eine entlegene Insel: Als er am Strand aus tiefem Schlaf erwacht, sieht er sich mit unzähligen feinen Schnüren gefesselt – und bemerkt höchst erstaunt die winzigen Wesen, die das bewerkstelligt haben: die Einwohner von Liliput. Nachdem deren anfängliches Misstrauen zerstreut ist, kann er sich als Jahrmarktsattraktion frei im Land bewegen und fungiert sogar als Berater des Kaisers.

Die abnormen Größenverhältnisse erfahren bei Gullivers nächstem Abenteuer einen fatalen Perspektivwechsel: Gelang es ihm in Liliput zum Beispiel, einen Palastbrand durch beherztes Urinieren zu löschen, muss er sich im Reich der Riesen, Brobdingnac, sogar vor Insekten fürchten. Doch nicht nur Gefahren machen den Aufenthalt dort unangenehm. Wirkten nämlich die puppenhaft kleinen Geschöpfe Liliputs für ihn possierlich, so sieht er sich nun mit bis zum Ekel überdeutlichen körperlichen Details konfrontiert. Andererseits schätzt er, was den Charakter angeht, die gutmütigen Kolosse höher als die streitsüchtigen Winzlinge.

Auf welche Teile beschränken sich die meisten Ausgaben des Romans?

Viele Ausgaben von »Gullivers Reisen« beschränken sich auf die ersten beiden Teile, die auch von jugendlichen Lesern leicht aufgenommen werden können. Nicht minder interessant sind jedoch die weiteren Stationen: die Fantasiereiche Laputa, Balnibarbi, Luggnagg und Glubbdubdrib oder die Pferderepublik der Houyhnhnms (deren Name das Wiehern nachahmt). Die Bewohner der fliegenden Insel Laputa sind über – teils absurden – wissenschaftlichen Forschungen, etwa dem Gewinn von Sonnenstrahlen aus Gurken, sozial völlig apathisch geworden. Bei den Houyhnhnms wiederum herrschen edle Rösser über degenerierte Menschen. Mit der Fantastik steigert sich auch von Mal zu Mal die Schärfe des satirischen Witzes.

Worauf zielt der scharfzüngige Spott?

Nur in Ausnahmefällen weist der Witz konkrete Zeitbezüge auf. Wichtiger war Swift die Entlarvung allgemeiner menschlicher Schwächen, von denen auch der naive Titelheld nicht ausgenommen ist: In allen seinen Abenteuern lernt er nur wenig hinzu, und vor dem Kaiser von Liliput prahlt er mit militärischen Errungenschaften seiner eigenen Zivilisation.

Die bekannteste Episode mit politischer Pointe ist der Krieg im Zwergenland, der über der Frage entbrennt, ob man ein gekochtes Ei am stumpfen oder spitzen Ende aufschlägt. Dem musterhaften Staatswesen der Riesen stehen in Liliput absurde Gebräuche gegenüber: Dort erlangt man eine Qualifikation für politische Ämter durch Meisterschaft im Seiltanzen oder andere akrobatische Fähigkeiten. Doch auch die Pferde sind keineswegs nur positive Leitbilder, verweisen sie doch in rigoroser Engherzigkeit Gulliver des Landes.

War Swift Moralist oder Menschenhasser?

Die Kritik stempelte Swift als Menschenhasser ab, da er den Menschen als erbärmliche Kreatur vorführte und (durch den Mund des Riesenkönigs) die Engländer als »schädlichste Rasse« des Erdballs bezeichnete. Swift begegnete dem Vorwurf in einem Brief an den Schriftsteller Alexander Pope: Er habe lediglich zeigen wollen, dass der Mensch kein wahrhaft vernünftiges Wesen sei. Drei Jahre später provozierte der Satiriker seine Zeitgenossen mit einem »Bescheidenen Vorschlag, wie man verhindern könnte, dass die Kinder der Armen ihren Eltern oder ihrem Land zur Last fallen«: Man solle sie mästen und den Reichen als wohlschmeckendes Mahl bereiten.

War Swift ein Utopist?

Ja, denn »Gullivers Reisen« knüpfen an die Tradition der Utopie an, den literarischen Entwurf eines idealen Staatswesens. Die Wirkungsabsicht von Platons »Politeia« und späterer Beispiele – etwa Thomas Morus' »Utopia« (1516), Tommaso Campanellas »Sonnenstaat« (1602/03) oder Francis Bacons »New Atlantis« (1627) – verkehrte Swift allerdings parodistisch ins Gegenteil und nahm damit tendenziell negative Utopien der Moderne vorweg, wie George Orwells »1984« (1949).

Warum musste sich Jonathan Swift hinter Pseudonymen verstecken?

Swift prangerte in seinen Satiren die Missstände im von England regierten Irland an, weswegen er Repressalien fürchten musste und oft anonym oder unter einem Pseudonym publizierte. Das Licht der Welt erblickte Jonathan Swift am 30. November 1667 in Dublin. Ab 1682 besuchte er die dortige Universität, wo er bereits durch seinen kritischen Geist auffiel. Er übersiedelte nach England, arbeitete als Privatsekretär, studierte in Oxford. 1698 nach Irland zurückgekehrt, nahm er eine Stelle als anglikanischer Priester an. Seine bekannteste Satire ist neben »Gullivers Reisen (1726) das äußerst sarkastische »Ein bescheidener Vorschlag« (1729). Swift starb am 19. Oktober 1745 als Dekan von St. Patrick's in Dublin.

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