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Rätselhafte Erschöpfung: Was steckt hinter ME/CFS?

Bleierne Erschöpfung, Konzentrationsprobleme, Schwäche selbst bei kleinster Anstrengung: Das Chronische Erschöpfungssyndrom (ME/CFS) trifft immer mehr Menschen – oft sind gerade junge Erwachsenen betroffen. Klar scheint, dass das Fatigue-Syndrom oft nach einer viralen Infektion auftreten kann – beispielsweise nach einer Influenza, dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder nach Covid-19. Was aber sind die Anzeichen? Was kann man tun und was weiß die Wissenschaft über die Auslöser?
NPO, 09.09.2022
Erschöpfte Frau auf einem Sofa

LumiNola, GettyImages

Es ist ein Sammelsurium diffuser Beschwerden ohne erkennbare Ursache: Man fühlt sich erschöpft und schwach, die Muskeln versagen schon bei kleinsten Anstrengungen den Dienst und schmerzen. Auch Kopfschmerzen, Schwindel, Überempfindlichkeit gegenüber Reizen und Herzrasen sind typische Symptome des chronischen Erschöpfungssyndroms, fachsprachlich Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS).

Typisch auch: Sport oder Bewegung helfen nicht, sondern verschlimmern das Problem. Oft kommt es danach zu einem regelrechten Crash - einem Stunden bis Tage anhaltenden Schwächeanfall, der die Betroffenen bettlägerig und teilweise bewegungsunfähig macht. Diese sogenannte Postexertionelle Malaise (PEM) unterscheidet das chronische Erschöpfungssyndrom von ähnlichen Erschöpfungszuständen beispielsweise in Folge einer Depression.

Nicht bloß psychosomatisch

Und noch etwas ist anders als bei einer normalen Erschöpfung beispielsweise durch zu viel Stress oder nach einer Infektion: Die Schwäche geht nicht von allein oder mit der Zeit wieder weg – sie kann ein Leben lang anhalten. Eine Heilung gibt es bisher nicht. Das liegt auch daran, dass die Mechanismen hinter de ME/CFS bisher erst in Teilen geklärt sind und es daher schwer ist, eine wirksame Therapie zu entwickeln. Wegen der unspezifischen Symptome wurde das chronische Erschöpfungssyndrom lange Zeit nur als psychisches oder psychosomatisches Leiden abgetan und von vielen Ärzten nicht ernst genommen.

Inzwischen hat sich dies aber geändert: Inzwischen gibt es Diagnosekriterien, durch die das Chronische Erschöpfungssyndrom von anderen ähnlichen Leiden abgegrenzt werden kann. Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass man ME/CFS an bestimmten Veränderungen des Stoffwechsels, der Darmflora und des Gehirns erkennen kann. Offiziell anerkannte verlässliche Biomarker fehlen aber bisher ebenso wie zugelassene und wirksame Behandlungsmöglichkeiten.

Schätzungen zufolge waren schon vor der Corona-Pandemie allein in Deutschland rund 300.000 Menschen von einer ME/CFS betroffen. Weil besonders oft junge Menschen am Fatigue-Syndrom erkranken, sind darunter auch rund 40.000 Jugendliche unter 18 Jahren. Etwa die Hälfte der Patienten ist so krank, dass sie nicht mehr zur Schule gehen oder arbeiten können. Einige Schwerstbetroffene sind sogar bettlägerig und nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen.

Symbolbild Long Covid
Inzwischen häufen sich die Indizien dafür, dass auch eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 ein Chronisches Erschöpfungssyndrom auslösen kann - unabhängig von der Schwere der Covid-19-Erkrankung.

iStock.com, omas Ragina

Spätfolge von viralen Infektionen – auch von Covid-19

Doch wie und warum bekommt man ein chronisches Erschöpfungssyndrom? Bisher deutet alles darauf hin, dass ME/CFS besonders oft als Spätfolge einer viralen Infektion auftritt. Selbst wenn man beispielsweise eine Influenza, das vom Epstein-Barr-Virus ausgelöste Pfeiffersche Drüsenfieber oder  eine Infektion mit Enteroviren scheinbar problemlos überstanden hat, kann sich danach das chronische Fatigue-Syndrom entwickeln. Anders als die sogenannte postinfektiöse Fatigue – eine oft noch einige Wochen nach der akuten Infektion anhaltenden Erschöpfung, geht diese Schwäche aber nicht wieder weg.

Inzwischen häufen sich die Indizien dafür, dass auch eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 ein Chronisches Erschöpfungssyndrom auslösen kann. Vor allem junge Covid-19-Patienten entwickeln selbst nach einem milden Verlauf der akuten Krankheit später häufig eine schwere Fatigue. „Bereits in der ersten Welle der Corona-Pandemie entstand der Verdacht, dass Covid-19 ein Trigger für ME/CFS sein könnte“, erklärt die Medizinerin und Immunologin Carmen Scheibenbogen von der Charité - Universitätsmedizin Berlin.

Inzwischen haben sie und ihre Kollegen diese Vermutung bestätigt. Ihrer Studie zufolge erfüllte rund die Hälfte der im Zuge von Post-Covid an Erschöpfung leidenden Patienten die Kriterien für ME/CFS. Das aber bedeutet: Durch die Corona-Pandemie nimmt die Zahl der Menschen, die von dieser bisher unheilbaren Krankheit betroffen sind, immer weiter zu. Experten befürchten bereits, dass auf die Covid-19-Welle nun eine zweite schleichende Welle des Fatigue-Syndroms folgt.

Wohin wendet man sich?

Was aber kann man tun, wenn man von ME/CFS betroffen ist oder dies vermutet? Theoretisch können Hausärzte dies überprüfen und die Diagnose stellen, beispielsweise mithilfe von international anerkannten Leitfäden wie den Kanadischen oder den Internationalen Konsenskriterien. Als ein Indiz gilt beispielsweise, dass Patienten bei Handkrafttests oder bei an zwei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführten Belastungstests am zweiten Tag deutlich verringerte Leistungen und ausgeprägte Schwäche zeigen – eine Folge der für ME/CFS typischen Postexertionelle Malaise.

Weil es bisher aber keine objektiven Biomarker für das Chronische Erschöpfungssyndrom gibt, kommt es immer noch häufig vor, dass die Krankheit nicht richtig erkannt wird oder es lange dauert, bis die richtige Diagnose erstellt wird. Spezielle Sprechstunden wie an der Charité in Berlin oder der TU München sind im Moment so ausgelastet, dass sie keine überregionalen Patienten mehr annehmen. Im Zweifelsfall kann es aber hilfreich sein, sich über Selbsthilfegruppen oder die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS über Diagnose- und Behandlungsmöglicheiten zu informieren.

„Leider können wir ME/CFS aktuell nur symptomatisch behandeln. Deshalb kann ich auch jungen Menschen nur ans Herz legen, sich mithilfe einer Impfung und dem Tragen von FFP2-Masken vor einer SARS-CoV-2-Infektion zu schützen“, betont Scheibenbogen.

Forschung läuft

Auch in der Medizin und Forschung tut sich aber inzwischen etwas. Ein neues Verbundprojekt unter Leitung der Charité soll die molekularen Mechanismen von ME/CFS in den nächsten Jahren genauer erforschen – und so die Voraussetzung für eine gezieltere Diagnose und Therapie schaffen. "Das kommt zur richtigen Zeit, denn das Thema postinfektiöse Erkrankungen hat in Folge der Pandemie eine neue Dimension bekommen", sagt Scheibenbogen. Sie und ihre Kollegen haben bereits einige immunologische Prozesse als Auslöser im Verdacht.

Die Hypothese der Forschenden: Der Körper der Betroffenen produziert offenbar vermehrt Antikörper, die sich gegen die eigenen Zellen, gegen wichtige Botenstoffe oder Gewebe richten. Durch eine Strukturveränderung docken diese Auto-Antikörper dann an bestimmten Rezeptoren der Zellen an und führen so zu Fehlfunktionen. Ob das der Fall ist und was man gegen die fehlgeleiteten Auto-Antikörper tun kann, wollen die Wissenschaftler in den nächsten Jahren herausfinden. So lange bleibt für die vom Chronischen Erschöpfungssyndrom Betroffenen erst einmal nur, sich schonen, die Symptome versuchen zu lindern und auf eine Therapie hoffen.

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