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Wie nicht sichtbare Behinderungen vergessen werden
Rund 70 bis 80 Prozent aller Behinderungen sind nicht sichtbar. Dazu zählen neurologische Störungen, psychische Erkrankungen, chronische Schmerzen sowie verschiedene Autoimmun- und Stoffwechselerkrankungen. Konkrete Beispiele sind etwa Multiple Sklerose, Diabetes, Morbus Crohn oder Epilepsie, aber auch Angsterkrankungen, Schizophrenie oder ADHS und Autismus. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass die Zahl der Menschen mit Behinderungen weiter steigen wird, unter anderem weil die Bevölkerung wächst, älter wird und chronische Erkrankungen zunehmen.
Wie Symbole das Unsichtbare sichtbar machen
Trotz einer hohen Zahl an Betroffenen ist das gesellschaftliche Bild von Behinderung oft sehr einseitig. Meist stehen dabei körperliche, sichtbare Beeinträchtigungen im Vordergrund. Doch diese sichtbaren Behinderungen nur die „Spitze des Eisbergs“ – der weitaus größere Teil bleibt unsichtbar und findet in Medien, Politik und Alltag kaum Beachtung, wie Forschende betonen. Selbst das internationale Symbol für Behinderungen ist ein Rollstuhl. Dabei steht es nur für einen kleinen Teil von den Betroffenen und lässt die Erfahrungen der großen Mehrheit unsichtbar werden.
Deswegen wurde 2017 ein neues Symbol eingeführt: ein grünes Umhängeband mit gelben Sonnenblumen, das von der britischen Organisation Hidden Disabilities Sunflower Scheme Ltd. beworben wird. In vielen Ländern ist es bereits weit verbreitet und wird an Flughäfen oder in Geschäften genutzt. In Deutschland konnte sich das Sonnenblumensymbol außerhalb von Flughäfen jedoch noch kaum durchsetzen. Einer der Gründe dafür ist wahrscheinlich, dass die Sonnenblume hier seit den 1980er-Jahren stark mit der Partei Bündnis 90/Die Grünen assoziiert wird.
Sollte man eine Behinderung überhaupt preisgeben?
Doch Sichtbarkeit ist bei Behinderungen nicht immer von Vorteil. Für Betroffene ist es oft ein Abwägen, ob sie ihre Behinderung in der Schule, Universität oder Arbeitsstelle mitteilen sollen oder nicht. Einerseits können sie nur so Unterstützung erhalten, wie zum Beispiel mehr Zeit in einer Klausur oder flexible Arbeitszeiten, andererseits birgt jede Offenlegung das Risiko, auf mildes Unverständnis bis sogar Stigmatisierung zu stoßen. Ihnen wird dann etwa nachgesagt, sie würden übertreiben oder simulieren, oder es wird infrage gestellt, wie schwerwiegend ihre Einschränkung tatsächlich ist. Denn nicht sichtbare Behinderungen werden nicht nur seltener erkannt, sondern auch häufiger angezweifelt, was Betroffene zusätzlich belastet.
Um Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen gut unterstützen zu können, hilft es, sich über ihre Behinderung zu informieren. Dabei sollte man beachten, dass solche Beeinträchtigungen sehr unterschiedlich verlaufen und selbst bei derselben Diagnose unterschiedliche Symptome auftreten können. Viele Erkrankungen verlaufen zudem schwankend: An manchen Tagen sind die Auswirkungen kaum spürbar, an anderen können sie stark einschränken, wie etwa bei Migräne.
Diese Unvorhersehbarkeit macht den Alltag für Betroffene oft besonders herausfordernd. Nicht immer lässt sich einfach erklären, warum etwas heute möglich ist und morgen nicht. Umso wichtiger sind Geduld, Flexibilität und ein offenes Ohr, denn schon kleine Gesten können viel bewirken.