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Lyonel Feiningers Marktkirche zur Abendstunde: Der fotografische Blick

Wie kam es zum Halle-Zyklus Feiningers?

Im Jahr 1928 beschloss der Magistrat von Halle an der Saale, eine Stadtansicht malen zu lassen. Alois Schardt, der damalige Direktor des Museums Moritzburg in Halle, sollte einen Maler empfehlen. Er nannte seinen Freund, den am Dessauer Bauhaus lehrenden Künstler Lyonel Feininger (1871–1956). Der malte jedoch nicht nur eine, sondern eine ganze Serie von einzigartig transparenten Stadtansichten. Das bekannteste Gemälde des Zyklus ist das Bild »Marktkirche zur Abendstunde«, das im Jahr 1930 entstand.

Wie ist das Bild aufgebaut?

Die spätgotische Architektur der Marienkirche, die wegen ihrer Lage am Marktplatz von den Hallenser Bürgern Marktkirche genannt wird, füllt beinahe den gesamten Bildraum. Dunkle Schatten und sonnig helle Flächen akzentuieren die gewaltige Baumasse des imposanten Gotteshauses, dessen vier Türme den oberen Rand des Bildes berühren. Sie strecken sich in den blauen Himmel, der den Hintergrund des Bildes ausfüllt. Am rechten Bildrand platziert Feininger den Roten Turm als farblichen Kontrast.

Die Marienkirche ist aus der Untersicht dargestellt. Da fühlt sich der Betrachter angesichts des übermächtigen Baukörpers ganz klein, so klein wie die im Vordergrund angedeuteten Menschen. Als schwarze Silhouetten verlieren sie sich auf dem Vorplatz der Kirche. Lyonel Feininger, der seine künstlerische Laufbahn als Karikaturist begonnen hat, nimmt das Figürliche völlig zurück; einzig die Architektur strukturiert den Bildraum.

Welche Folgen hatte der Auftrag für den Maler?

Nachdem Feininger 1928 vom Magistrat Halles den Malauftrag erhalten hatte, fand er Gefallen an der Stadt im Braunkohlerevier, deren Himmel seinen typischen blauen Schimmer den Rußpartikeln verdankte. Man gab dem Maler ein Atelier im Torturm der alten Moritzburg, wo er mehrere Monate im Jahr arbeitete. Zwischen 1929 und 1931 entstanden elf Ölgemälde und 29 Zeichnungen mit Ansichten von Halle.

Am Beginn der künstlerischen Erschließung der Stadt stand die Fotografie: Feininger machte sich mit den Straßen, Plätzen und Baulichkeiten vertraut, indem er sie zu allen möglichen Tageszeiten und bei unterschiedlichen Wetterlagen fotografierte. »Das Fotografieren hat mir das Sehen auf eine neue Art gesteigert ... Ich finde, dass die Aufnahmen mit jedem Male besser gesehen und gelungen sind, so dass es sich lohnt, einiges mehrere Male zu fotografieren«, schrieb er aus Halle an seine Frau. Er experimentierte auch mit Doppelbelichtungen. Die Fotografie gewann eine herausragende Position in seinem bildnerischen Schaffen und die Fotos wurden die Vorlage für seine Zeichnungen und Gemälde.

Unterscheidet sich die »Marktkirche« von Feiningers vorherigen Arbeiten?

Unter dem Einfluss der Ästhetik des Bauhauses, wo Feininger von 1919 bis 1933 als Lehrer in Weimar und dann in Dessau wirkte, verloren seine Bilder in den 1920er Jahren das Dynamische, dabei auch Unruhige, das seine früheren Werke gekennzeichnet hatte. So steht die Marktkirche klar und geordnet vor uns, trotz der kubistisch aufgebrochenen Formen. Exakt ausgeführte Geraden gliedern die Oberfläche in geometrische Formen, als ob ein grafisches Raster über das ursprüngliche Motiv gelegt wäre. Es entstehen prismatische Flächen, in denen sich das Licht bricht. Die in mehreren, unterschiedlich dicken Schichten aufgetragene Farbe erlaubt höchsten Reichtum an künstlerischen Nuancen und erzielt die Wirkung von sich überschneidenden Farbschleiern.

Mit dem Gemälde zeigte sich der 59-jährige Feininger im Zenit seines Schaffens. Die internationale Anerkennung kam zwar erst später, doch alles, was Feiningers Kunst so unverwechselbar macht, ist bei »Marktkirche zur Abendstunde« in Vollendung ausgeführt.

Was geschah mit dem Halle-Zyklus?

Für 31200 Reichsmark, ausgezahlt in drei Raten, erwarb der Magistrat Halles von Feininger alle Stadtansichten und präsentierte sie dann im Museum in der Moritzburg. Doch schon kurze Zeit später, im Jahr 1933, verschwanden die Gemälde im Magazin des Museums. Die Nationalsozialisten hatten in Deutschland die Macht übernommen und auch die Kunst ihrem Diktat unterworfen. Die Bilder wurden beschlagnahmt, einige landeten 1936 in der berüchtigten NS-Propagandaschau »Entartete Kunst«. Heute sind Lyonel Feiningers Werke in den bedeutendsten Museen der Welt zu sehen.

Wussten Sie, dass …

Lyonel Feininger als Maler ein Spätberufener war? Bis in seine »besten Jahre« hinein arbeitete er als Karikaturist, erst mit 36 Jahren fand er zur Malerei.

Feininger fünf Kinder mit zwei verschiedenen Frauen hatte?

der Künstler auch als Musiker talentiert war und eine Fuge komponierte?

Feininger Modelle von Eisenbahnen entwickelte, die als Vorbilder für die Spielzeugproduktion dienten?

War Feininger ein deutscher oder ein amerikanischer Maler?

Wohl beides, wenn Deutschland ihn auch schlecht behandelte. Nachdem die nationalsozialistische Kulturpolitik 1933 zur Schließung des Bauhauses geführt hatte, verlor Lyonel Feininger seine Dozentenstelle und damit seine Existenzgrundlage. 1937 verließ Feininger Deutschland, seine zweite Heimat, wo er als 16-Jähriger seine künstlerische Ausbildung begonnen hatte, für immer. Er kehrte zurück nach New York, in die Stadt, in der er 1871 als Sohn eines deutschen Geigers und einer amerikanischen Sängerin geboren war.

Der Neubeginn fiel schwer, in den USA war er als Maler kaum bekannt. Über alte Kontakte erhielt er 1938 den Auftrag für mehrere große Wandbilder für die New Yorker Weltausstellung. 1944 kam dann endlich die internationale Anerkennung seiner Größe: Das Museum of Modern Art ehrte ihn mit einer Retrospektive, die 75 Werke umfasste, sowohl frühere als auch die neuen, in Amerika entstandenen Gemälde. 1956 starb Lyonel Feininger in New York.

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