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Rodins Bürger von Calais: Ein Manifest menschlichen Opfermuts

Auf welches Ereignis bezieht sich die Skulptur?

Im Laufe des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich spielte die reiche Hafenstadt Calais eine wichtige Rolle. Nachdem der französische König Philipp VI. sie bereits aufgegeben hatte, leistete die Bürgerschaft den englischen Truppen ab Sommer 1346 erbitterten Widerstand. Die Belagerung dauerte ein Jahr, ehe die Vorräte der Stadt verbraucht waren und man zur Kapitulation bereit war. Englands König versprach, Calais zu schonen – unter der Bedingung, dass sechs der Edelsten barhäuptig, barfüßig und mit einem Strick um den Hals zu ihm kämen und ihm die Schlüssel der Stadt überreichten, bevor sie hingerichtet würden.

Sechs Patrizier der Bürgerschaft erklärten sich daraufhin bereit zum Opfertod, zogen sich bis aufs Hemd aus, legten sich einen Strick um den Hals und traten den Weg ins Feldlager der Engländer an. Als König Eduard sie dem Henker übergeben wollte, fiel die Königin vor ihm zu Boden, bat um Begnadigung der Männer und schenkte ihnen schließlich die Freiheit.

Was vermittelt Rodin in seiner Darstellung?

Rodin schildert in seinem 1884 bis 1886 entstandenen Werk weniger das historische Ereignis als vielmehr das allgemein Gültige eines Opfergangs, der entfernt an die Kreuztragung Christi erinnert. Wir sehen einzelne Gestalten, die sich allmählich zur Gruppe zusammenschließen und den Weg aus der Stadt antreten. Der Aufbruch bedeutet einen Abschied für immer. Aus den Gesichtern spricht Angst, Trauer und Verzweiflung. Ausgehungert und in langen, zerlumpten Büßerhemden vermitteln sie ein Bild der völlig verarmten Stadt Calais. Den Blick gesenkt, einen Strick um den Hals stehen sie wortlos wie vor dem Galgen, den sicheren Tod vor Augen.

Die Gruppe setzt sich aus sechs Männern unterschiedlichen Alters zusammen, die ihr schweres Schicksal individuell fühlen und ertragen und in ihrer eindrucksvollen Lebendigkeit differenzierte Charaktere ausbilden. Rodin hatte das Denkmal ausdrücklich ohne Sockel geplant, um jede Möglichkeit der heldenhaften Überhöhung zu vermeiden. Stattdessen zielte er bewusst auf das nachfühlende Erleben in nächster Nähe.

Wie sind die einzelnen Männer charakterisiert?

Was zunächst den Eindruck eines willkürlich zusammengesetzten Ensembles erweckt, das sich apathisch und unkoordiniert fortbewegt, ist bei genauerem Hinsehen das Ergebnis einer sorgfältig durchdachten Choreografie. Der greise, bärtige Eustache ganz in der Mitte der Gruppe stellte sich als Erster zur Verfügung. Es scheint, als habe er mit dem Leben bereits abgeschlossen: Gesenkten Hauptes sehen wir ihn hinter Jean d'Aire stehen, der die Schlüssel der Stadt in Händen hält. Kräftig, stämmig und trotzig will der sich mit seinem Schicksal noch nicht abfinden. In seiner Haltung und Mimik klingt der stolze Widerstand der Bürgerschaft von Calais nach. Einen Augenblick noch wartet d'Aire, bis die Übrigen zu den beiden aufgeschlossen haben. Rechts hinter ihm folgen zwei Männer. Ihnen ist die schiere Verzweiflung anzusehen. Einer schreckt zurück und fasst seine Hände über dem Kopf. Der andere kann die Situation noch nicht begreifen. Wie in Trance schreitet er vorwärts und hebt – für uns nicht sichtbar – stumm gestikulierend seinen rechten Arm, während seine Linke – ebenfalls verdeckt – einen der Stadtschlüssel umfasst. Das Schlusslicht bilden zwei jüngere Männer, deren Ausdruck Ohnmacht und Empörung zeigen – sie hätten noch ihr ganzes Leben vor sich. Anrührend ist vor allem der schmerzerfüllte Ausdruck des Letzten, der sich noch einmal zu den Zurückbleibenden umwendet, ohne sie anzuschauen. Doch auch diese beiden drehen sich und folgen dem Zug der Todgeweihten.

Existiert die Plastik von Rodins »Bürgern von Calais« nur einmal?

Nein, Rodins »Bürger von Calais«, die erst auf Ablehnung stießen, gab es dann bald in mehreren Abgüssen. So bat die englische Regierung um eine Bronzereplik, die 1913 am Themseufer vor dem Parlament aufgestellt wurde – als einen Akt der Versöhnung angesichts der erforderlichen Allianz mit Frankreich im bevorstehenden Ersten Weltkrieg. Weitere Abgüsse in Originalgröße gingen 1903 nach Kopenhagen, 1905 in den Schlosspark des belgischen Mariemont, 1925 nach Philadelphia, 1948 in den Ehrenhof des Basler Kunstmuseums, 1953 nach Washington, 1959 nach Tokio und 1967 nach Los Angeles. Rodins Werk, das bürgerliche Ideale anspricht, an den Gemeinschaftssinn und die Verantwortung des Einzelnen appelliert, hatte auf diese Weise wahrhaft globale Auswirkungen.

Wussten Sie, dass …

der berühmte Lyriker Rainer Maria Rilke von 1905 bis 1906 Rodins Sekretär war?

Rodin Mitglied eines christlichen Ordens war? Als 1862 seine Schwester starb, traf ihn das so sehr, dass er dem Orden Pères du Saint-Sacrament beitrat. Dieser bewies jedoch Weitblick und stellte ihn sofort für den Rest seines Lebens für seine Künstlertätigkeit frei.

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