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Hypersensibilität – Krankheit oder Chance?

Die Wahrnehmung von Menschen ist höchst unterschiedlich. Mancher muss bei dem Geräusch von aufeinander reibendem Styropor oder dem Kratzen von Kreide auf einer Tafel fast schon fluchtartig den Raum verlassen während anderen diese Geräusche nichts ausmachen. Doch es gibt eine große Anzahl an Menschen die äußere und innere Eindrücke deutlich stärker wahrnehmen als andere. Diese gesteigerte Empfindsamkeit wird im Allgemeinen als Hochsensibilität oder Hypersensibilität bezeichnet. Was sich hinter diesem Begriff en détail verbirgt und wie es sich um die Bewertung dieser Veranlagung verhält, wird versucht hier genauer zu erklären.
Hypersensibilität

© adobe.stock, Susith

Wer in besonders emotional aufgeladenen sozialen Situationen schnell gestresst ist, von einer Vielzahl von Sinneseindrücken beinahe wie betäubt ist oder in besonders abstrakte oder bildhafte Denkmuster verfällt, der könnte zu dem Kreis der hochsensiblen Personen zählen. Und dieser ist könnte größer sein, als man erwarten würde. Je nach Studien reicht die Menge der Betroffenen zwischen 15 und 20 Prozent. Manche Studien sehen sogar jeden Dritten betroffen.

Was sind die Merkmale hochsensibler Menschen?

Doch was bedeutet es hypersensibel zu sein? Meist wird anhand von drei Kategorien beurteilt, ob eine gesteigerte Empfindsamkeit vorliegt. Zum einen wäre da die körperliche Ebene, Merkmale hier wären etwa:

  • Intensives Empfinden von äußeren Reizen, wie Gerüche, Geräusche oder Berührungen, diese können schnell als belastend empfunden werden.
  • Innere Zustände wie Schmerzen, Hunger oder Stress werden als besonders stark beschrieben.
  • Personen zeigen häufig ein gesteigertes Schreckempfinden.
  • Schlafprobleme, ein empfindlicher Magen oder Darm und Kopfschmerzen treten überproportional oft auf.

Daneben gibt es die emotionale Ebene, bei der häufig folgende Besonderheiten auftreten:

  • Ein besonders starkes Einfühlen in andere Menschen, gerade die Stimmungen anderer werden oft intuitiv erkannt. Deshalb entwickeln sie ein ebenso starkes Mitgefühl für andere.
  • Die eigenen Emotionen werden sehr intensiv erlebt. Es fällt häufig schwer sich nicht von zum Beispiel Wut, Trauer oder Angst mitreißen zu lassen und komplexere Emotionen überfordern die Betroffenen schnell.
  • Die eigenen Bedürfnisse werden in sozialen Konflikten schnell untergeordnet, um für ein hohes Maß an Harmonie zu sorgen.
  • Oft haben diese Personen ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und werden schnell zornig bei subjektiv erlebter Ungerechtigkeit.

Abschließend existiert noch die geistige Ebene, hier zeigen sich meist diese Eigenschaften:

  • Die Neigung zu bildhaftem Denken und in der Alltagssprache finden sich viele sprachliche Mittel wie Metaphern oder Vergleiche.
  • Entscheidungen werden häufig erst nach langen Überlegungen getroffen, deshalb werden sie oft als grüblerisch oder unentschlossen beschrieben.
  • Damit geht eine hohe Reflexionsfähigkeit einher, nicht selten sind sie Perfektionisten die ständig das eigene Verhalten analysieren und bewerten.
  • Zusammenhänge werden von ihnen schnell erkannt. Vorwiegend sind diese Personen auch besonders kreativ und haben komplexe Denkmuster.

Bei hochsensiblen Personen tritt mindestens in einem Bereich eine verstärkte Empfindsamkeit auf, allerdings ist es auch nicht unüblich in zwei oder allen drei Bereichen überdurchschnittlich sensibel zu sein.

Panikanfall
Probelmfall Hochsensibilität?

© adobe.stock, Rainer Fuhrmann

Die Probleme von Hochsensibilität

Ab wann allerdings eine Hypersensibilität genau vorliegt, ist in der Psychologie nicht abschließend geklärt. Dies liegt vor allem daran, dass obwohl oft ein individueller hoher Leidensdruck vorliegen kann, Hochsensibilität nicht als Störung diagnostiziert wird. Ähnlich wie Hochbegabung, die sich oft mit Hochsensibilität überschneidet, erleben sich die Betroffenen schon in der Schulzeit als anders, nicht selten gelten sie als störend oder komisch. Häufig kommt es auch zu Fehldiagnosen, die starke Empfindsamkeit und damit verbundene Unruhe wird als ADHS diagnostiziert. Hochsensiblen Personen ist gelegentlich bis ins fortgeschrittene Alter nicht bewusst woher dieses Anders-Sein kommt und sie erleben einen Aha-Moment, sobald sie es erfahren.

Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass sich Hochsensible Menschen stetig rechtfertigen müssen. Wenn ihnen Berührungen etwa unangenehm sind, sie auf Temperaturen stark reagieren, eine Bemerkung sie verärgert oder sie etwa eine Party aufgrund von Reizüberflutung frühzeitig verlassen müssen, ständig steht der Vorwurf im Raum zu dünnhäutig und empfindlich zu sein. Das aus solchen Vorwürfen schnell Schuldgefühle entstehen ist nachvollziehbar. Denn die Ursache für die Andersartigkeit sehen die Betroffenen bei sich und es quält sie die Frage, warum sie so wenig belastbar sind. Eine häufige Strategie ist es dann, sich zurückzuziehen und über die Situation nachzudenken, um in Zukunft anders reagieren zu können. Denn einen reflexartigen Gefühlsausbruch bereuen sie schnell.

Briefschreibender Mann vor abendlicher Berkulisse
Sensibilität kann im privat- wie auch im Berufsleben einige Vorteile mit sich bringen.

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Stärken von hypersensiblen Personen

Doch bei all diesen Problemen, die Gründe Hochsensibilität nicht als Krankheit zu klassifizieren sind allerdings trotzdem nachvollziehbar. Die WHO klassifiziert sie als Persönlichkeitsmerkmal. Denn auch wenn die daraus resultierenden Probleme gravierend sein können, sollten ebenso die Vorteile betrachtet werden. Denn hochsensible Personen haben eine Vielzahl an Stärken, welche sowohl im Privat- als auch im Berufsleben einige Vorteile mit sich bringen.

Dank der hohen Reflexionsfähigkeit und den hohen Selbstansprüchen übernehmen sie häufig schon früh Verantwortung. Mitgliedschaften in Vereinen und die Übernahme von Ehrenamtspositionen sind ganz natürliche Tätigkeiten die sich mit ihren Stärken decken. Auch bei sozialen Projekten sind sie häufig vorzufinden, da sie sich oft in die Lage von benachteiligten Menschen hineinversetzen können. Diese gesteigerte Empathie prädestiniert sie für Berufe in der Pflege, Sozialen Arbeit oder Tierschutz. Auch als Vermittler in Konflikten sind sie bestens geeignet, da sie versuchen sich in alle Parteien zu versetzen und stets nach Wegen suchen ein gerechtes Ergebnis zu erzielen. Gerade neben dem Studium bietet es sich an, als hochsensibler Mensch ehrenamtlich tätig zu sein. So können die Soft-Skills weiter verbessert werden und die eigenen Stärken für einen späteren Arbeitgeber nachvollziehbar aufgezeigt werden.

Da Kreativität und ein Hang zum bildhaften Denken einigen Hochsensiblen liegt, verwundert es nicht, dass sie eine künstlerische Karriere einschlagen. Ihr komplexes Innenleben in Worte oder Symbole zu kodieren und so zu versuchen, sich anderen Verständlich zu machen ist eine Fähigkeit, die sich zwangsläufig entwickelt, da sie oft unter Erklärungsdruck stehen. Ob als Autoren, Musiker oder Designer, der Drang sich selbst auszudrücken ist meist stärker als bei anderen.

Wie mit Hochsensibilität umgehen?

Klassische Therapiemethoden sind wenig zielführend. Mithilfe einer Gesprächstherapie lassen sich Probleme wie intensives Empfinden von äußeren und inneren Einflüssen nur schwer behandeln. Auch Medikamente sind nicht geeignet hier Linderung zu verschaffen. Sie sind auch nicht der richtige Ansatz, niemand würde einem Hochbegabten eine Pille verschreiben, um Problem anders zu lösen oder „normaler“ zu sein. Stattdessen muss man mit den Problemen wie den Chancen gleichermaßen leben. Für Folgeerkrankungen wie Depressionen oder Schlafprobleme, die eher aus den Folgen der starken Empfindsamkeit entstehen, lässt sich natürlich eine Therapie finden.

Bewährt haben sich auch Entspannungstechniken wie Yoga, Meditationen oder Fantasiereisen um mit den Gefühlen von Überlastung und Überforderung fertig zu werden. Der Reflex sich in Situationen die unangenehm sind zurückzuziehen und über das Geschehene in der Introspektive zu reflektieren ist genau richtig. Sich durch unangenehme Situationen und Eindrücke zu quälen verschlimmert die Situation meist nur. Falls zu erwarten ist, dass eine Situation mit hohem Reizpotential eintritt, kann es helfen, schon im Vorhinein regelmäßige Auszeiten einzuplanen. Dadurch kann das Potential einer Überlastung minimiert werden.

Es kann ebenfalls von Vorteil sein, das eigene Umfeld über die persönliche Situation zu informieren. Durch eine offene Kommunikation können Missverständnisse nachhaltig verhindert werden und Akzeptanz gefördert werden. Allerdings sollte man hier Vorsichtig sein, denn nicht jeder zeigt Verständnis für die Hochsensibilität. Manche sehen darin eine Modeerscheinung und lehnen solche Diagnosen ab. Denn leider fehlt in weiten Teilen noch ein Bewusstsein für die Besonderheiten, die mit einer Hypersensibilität einhergehen.

Daher ist es im Allgemeinen wichtig, ein Bewusstsein für Hochsensibilität zu schaffen. Glücklicherweise setzt sich nicht nur die Forschung immer mehr mit diesem Thema auseinander. Es gibt mittlerweile auch zahlreiche Interessensgruppen, welche versuchen, dieses Thema in den Fokus zu rücken. Diese vermitteln auch Kontakte zu anderen Betroffenen und erlauben so sich durch Austausch mit dem Eigenen erleben auseinanderzusetzen. Vielleicht ist es deshalb nur noch eine Frage der Zeit, bis Hochsensibilität besser erkannt und gefördert wird.

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