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Inklusion, was ist das?

von Britta Mentzel

Mädchen mit Down-Syndrom malt ein Bild
Fotolia.com/philidor
Fast ein Modewort und doch tiefgründig: Inklusion ist ein bildungspolitisches Schlagwort, das den freien Zugang aller gesellschaftlichen Gruppen zu Bildung und Arbeit umschreibt. Vor allem in der gemeinsamen Schulerziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern spielt Inklusion eine wichtige Rolle.

 

Inklusive Grundschulen

Mia hat die Augen in die Ferne gerichtet und den Bleistift in den Mund gesteckt. Das tut sie immer, wenn sie nicht versteht, wie sie die Lücken auf dem Arbeitsblatt füllen soll. Dann weiß die Sonderpädagogin, Silke S., dass die 8-Jährige mit den kaum merklichen Anzeichen des Down-Syndroms Hilfe braucht. Vielleicht kann ihr heute ihr Sitznachbar Tim helfen. Mia besucht eine von derzeit drei inklusiven Grundschulen in München. Dass sie auf eine Regelschule gehen kann, ist Ergebnis des aktuellen bildungspolitischen Trends in Deutschland: der Inklusion.
 


Inklusion – was verbirgt sich hinter dem neuen Zauberwort?

Es geht um nichts weniger als die Vision einer wunderbaren neuen Welt. Eine Welt, in der alle die gleichen Chancen haben – ganz gleich, wo sie herkommen, wie alt sie sind, ob sie behindert sind oder nicht. Das lateinische Wort „includere“ bedeutet einschließen und aufnehmen, der Begriff „Inklusion“ meint die vollkommene Teilhabe des Einzelnen am Ganzen. Grundlage ist die Anerkennung und Wertschätzung menschlicher Diversität. Doch statt die natürliche Vielfalt als Argument einer Trennung nach Begabungen heranzuziehen, setzt die Inklusion auf den freien Zugang zu allen Lebensbereichen.
Soweit die Theorie. Konkret entzündet sich Inklusion in Deutschland an einem Thema: der Öffnung von Bildungsmöglichkeiten für Behinderte. Anstoß zur Debatte hat die Erziehungskonvention der UN-Vollversammlung im Dezember 2006 gegeben. Seit März 2009 ist sie als „Behindertenrechtskonvention“ (BRK) auch hierzulande in Kraft. Zwar wurden die englischen Formulierungen durch die deutsche Übersetzung aufgeweicht – so ist etwa von „integrativer“ statt inklusiver Bildung die Rede – , verbindlich sei jedoch die unterzeichnete Originalfassung, so Marianne Hirschberg vom Deutschen Institut für Menschenrechte. In einer „Schattenübersetzung“ haben sich Betroffenenverbände näher am Wortlaut orientiert. Mehr als 70 Verbände bilden in Deutschland die „Allianz der Zivilgesellschaft zur UN-Behindertenrechtskonvention“.
Barrierefrei in jeder Hinsicht

 

Das "Recht auf Regelschule"

Kernstück der Konvention ist das „Recht auf Regelschule“ ohne Diskriminierung und Barrieren. Statt wie bisher die Integration der Kinder ins bestehende System  zu fordern, dreht sich bei der Inklusion die Aufgabenlast um. So soll die Grauzone, die zwischen formaler rechtlicher Gleichstellung und tatsächlicher physischer und psychischer Benachteiligung entsteht, aufgehoben werden. Bund und Länder müssen dafür sorgen, die Rahmenbedingungen den Bedürfnissen anzugleichen. Damit sind infrastrukturelle Anpassungen gemeint und vor allem: eine gute personelle Ausstattung. Idealerweise stimmen sich in einem „Professionenmix“ Lehrer, Sonderpädagogen, Psychologen und Therapeuten miteinander ab. Das kostet Geld, das nur zum Teil an den bisherigen Förderschulen frei wird.

 

Die vermeintlich Schwächsten der Gesellschaft einbinden

Mias Mutter findet, es sei höchste Zeit, auch die vermeintlich Schwächsten der Gesellschaft einzubinden. „Nach Elitenförderung und PISA-Wahnsinn sollte endlich mehr Geld in die Förderung der behinderten Kinder gesteckt werden“, sagt Jutta Z., „da liegen so viele Fähigkeiten verborgen.“ Die 47-jährige Grafikerin sieht den Staat in der Pflicht, als Vorbild zu wirken und Impulse zu setzen. Denn noch stehen Kränkungen, die durch Vorurteile und Gewohnheit oder mangelnde Kommunikation entstehen, an der Tagesordnung.  In der fränkischen Gemeinde Bruckberg zum Beispiel, seit 120 Jahren ein diakonisches Zentrum für Behinderte. Dort haben im Herbst 2011 fünf Familien gegen eine gemeinsame Konfirmation von acht behinderten und sieben nichtbehinderten Jugendlichen protestiert. Auslöser sei das schlechte Informationsmanagement des Pfarrers gewesen, hieß es, als der Fall auch außerhalb des Landkreises Ansbach Wellen schlug. Ein Mediator vermittelte – bis zur Konfirmation im April 2012 war der Streit beigelegt.

 

"Inklusion beginnt im Kopf"

Das Beispiel zeigt: „Inklusion beginnt im Kopf“. Mit diesem Satz umreißt Karin Evers-Meyer, von 2005 bis 2009 Bundesbeauftragte für Behinderte, die Schwierigkeiten mit den vielen Bezugsebenen des Begriffs. Vor allem in Deutschland falle es vielen Leuten schwer, traditionelle Denkmuster aufzugeben. „In keinem Land der Welt wachsen die Menschen so getrennt voneinander auf“, meint die SPD-Politikerin Evers-Meyer, „nirgends gibt es so ein ausgeklügeltes segregatives Schulsystem.“

 

Konkrete Fortschritte bei der Inklusion?

Da Schulpolitik in der Bundesrepublik eine Angelegenheit der Länder ist, sind die konkreten Fortschritte bei der Inklusion sehr unterschiedlich. Am besten schneiden Bremen und Schleswig-Holstein ab – zu diesem Ergebnis kam der „Bildungsbarometer Inklusion“ des Sozialverbands Deutschland im August 2009. Seitdem hat sich in den Ländern viel bewegt, aber oft fehle noch die klare Richtung, kritisiert der SoVD. Schlüsselbegriffe wie der „Vorrang inklusiver Bildung“ und die Wohnortnähe sind nach Ansicht vieler Verbände nicht genügend berücksichtigt. Auch sei die Qualität des Angebots oft ein Problem. Obwohl die Inklusionsquote in Deutschland steige.


Modelle mit Zukunft

Sie heißen „Integrative Regelschulen“,  „Starterschulen“  oder „Inklusive Grundschulen“ – nahezu jedes Bundesland wählt eine eigene Bezeichnung für die neue Schulform, die bald überall die Regel sein soll. Die Befürchtung, die begabten Kinder blieben bei der inklusiven Erziehung auf der Strecke, ist laut Karin Evers-Meyer unberechtigt: „Die für jeden einzelnen Schüler erfolgversprechendste Schulform ist gemeinsamer Unterricht mit individueller Förderung.“ Deshalb hält die SPD-Politikerin die Inklusion auch langfristig für die beste Bildungsoption: „Eine inklusive Gesellschaft ist eine starke Gesellschaft, denn sie profitiert von einem starken sozialen Zusammenhalt und gegenseitigem Verständnis.“ Das sieht Jutta Z. aus München genauso: „Wir sind froh, dass Mia auf eine normale Schule geht. Hier kommt sie mit den Kindern ihrer Umgebung zusammen und traut sich viel Neues zu.“ Wie es nach der vierten Klasse für Mia weitergeht, ist allerdings noch ungewiss: Die bayerischen Aufnahmevoraussetzungen für Realschule oder Gymnasium wird das Mädchen wohl kaum schaffen.                

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