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Wie sich Bilingualität auf uns auswirkt
60 bis 75 Prozent der Menschen weltweit sprechen zwei Sprachen, wie eine Befragung der Online-Plattform Statista zeigt. Auch etwa 40 Prozent der Deutschen geben an, zwei Sprachen zu beherrschen. Ein weiteres Viertel spricht sogar drei oder mehr Sprachen fließend. Die meisten der mehrsprachig aufgewachsenen Menschen in Deutschland sprechen neben Deutsch noch Russisch, Türkisch oder Polnisch.
Zunächst geringerer Wortschatz
Für das Gehirn eines Kleinkindes ist es jedoch eine enorme Aufgabe, zwei Sprachen gleichzeitig zu lernen. Bilingual erzogene Kleinkinder hinken ihren Altersgenossen daher zunächst kommunikativ hinterher. Sie lernen die typischen Muster ihrer beiden Sprachen später als einsprachig aufwachsende Kleinkinder. Bilinguale Kinder fangen dadurch meist auch später an zu sprechen und machen bei der Erweiterung von Grammatik und Wortschatz langsamere Fortschritte, wie Studien belegen.
„Betrachtet man den Wortschatz in den Einzelsprachen, dann zeigt sich, dass die Kinder darin über verschiedene Altersstufen hinweg einen geringeren Wortschatz haben als gleichaltrige Einsprachige“, erklärt die Patholinguistin Annegret Klassert. Ein Grund zur Sorge ist das allerdings nicht: Mit der Zeit holen Kinder, die mit zwei Sprachen aufwachsen, den Rückstand wieder auf. Vermutlich versuchen sie, die unterschiedlichen Sprachlaute in der zweisprachigen Umgebung zu verarbeiten, indem sie lange flexibel bleiben.
Was bedeutet „Spinnen-Cafeteria“?
Bilingual aufzuwachsen, beeinflusst unser Gehirn auf verschiedene Weisen. Unter anderem könnte Zweisprachigkeit uns kreativer machen: In einer Studie sollten Probanden erraten, was frei erfundene Begriffe wie „Spinnen-Cafeteria“ bedeuten. Personen, die zweisprachig aufwuchsen, gaben einfallsreichere Antworten. Woran liegt das?
„Wir gehen davon aus, dass bei Mehrsprachigen insgesamt mehr Sprachaktivität im Gehirn passiert und daher die Fähigkeit, flexibel zu assoziieren, erhöht ist“, erklärt Alexander Onysko von der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. „Kreative denken weniger linear, ihre Gedanken sind breiter gestreut und sie kommen so eher auf Ideen abseits des Mainstreams.“
Bessere Eselsbrücken
In einer anderen Studie mussten sich englischsprachige und englisch-spanischsprachige Menschen genannte Objekte merken. Der Clou: Die Bezeichnung der gezeigten Objekte klang entweder auf beiden Sprachen oder nur auf Englisch ähnlich wie die des Zielobjekts. War das Zielobjekt eine Kerze (englisch: candle), zeigten weitere Bilder Süßigkeiten (englisch: candy) und ein Vorhängeschloss (spanisch: candado).
Probanden, die sowohl Englisch als auch Spanisch sprachen, erinnerten sich an mehr Objekte als jene, die nur Englisch sprachen. Sie erinnerten sich beispielsweise an die Süßigkeiten und das Schloss, während die rein Englischsprachigen nur die Süßigkeiten in Erinnerung behielten. Warum? Die Forschenden vermuten, dass sich die zweisprachigen Testpersonen wegen ihres größeren Wortschatzes bessere Eselsbrücken bauen können.
Gesünder durch Zweisprachigkeit?
Nicht nur geistig, sondern auch körperlich hält Bilingualität offenbar fit: Zweisprachige erkranken durchschnittlich fünf Jahre später an einer Demenz als Einsprachige und erleiden außerdem nur halb so oft Beeinträchtigungen durch einen Schlaganfall. Gehirnscans zeigen, dass sie in bestimmten Hirnarealen mehr graue und weiße Hirnsubstanz haben und einige ihrer Hirnbereiche stärker miteinander vernetzt sind. Dadurch können diese gestärkten Gehirnbereiche zum Teil geschädigte Funktionen übernehmen und somit das Gehirn länger gesund halten.
„Diese Schutzwirkungen könnten eine direkte Folge davon sein, wie sich das menschliche Gehirn an die ‚zusätzliche Anstrengung‘ angepasst hat, die durch den Umgang mit zwei oder mehr Sprachen entsteht“, erklärt Daniela Perani von der San Raffaele Universität in Mailand.
Logische versus emotionale Entscheidungen
Mit zwei oder mehr Sprachen aufzuwachsen, beeinflusst jedoch nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch, wie emotional beziehungsweise rational wir handeln. In einer Fremdsprache fällen wir Entscheidungen eher nach logischen Aspekten, wie eine Studie der University of Chicago ergeben hat. Bei einem Glücksspiel mit Münzenwerfen entschlossen sich 71 Prozent der Teilnehmer, die die Spielanleitung in ihrer Muttersprache lasen, gegen das Münzenwerfen.
In einem anderen Test konfrontierten die Forschenden die Probanden mit dem sogenannten „Trolley Problem“: „Sie stehen über einem Bahngleis auf einer Brücke. Auf dem Gleis sind fünf Menschen festgebunden, ein Zug kommt direkt auf sie zu. Neben Ihnen steht ein korpulenter Mensch – wenn Sie ihn auf das Gleis schubsen, hält dies den Zug auf und rettet die fünf. Würden Sie das tun?“ Einem Teil der Testpersonen wurde das Problem in ihrer Muttersprache und einem Teil in einer Fremdsprache präsentiert.
Auch hier zeigte sich ein ähnliches Ergebnis: In ihrer Muttersprache Angeleitete taten sich schwerer, den Menschen auf die Gleise zu schubsen, um fünf andere zu retten. In der Fremdsprache zeigten die Testpersonen hingegen weniger Hemmungen. Die Forschenden vermuten, dass dies daran liegt, dass die in der Familie gelernte Muttersprache enger mit Gefühlen und der Kultur zusammenhängt. Dem gegenüber steht die in einem Klassenraum unter meist sachlichen Bedingungen gelernte Fremdsprache – sie ist weniger emotional besetzt.
Sollten wir also vielleicht bei Entscheidungen, die wir möglichst logisch fällen wollen, versuchen, in einer Fremdsprache darüber nachzudenken?