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Kriegsmunition am Meeresgrund – wie groß ist die Gefahr?
Wer in einer deutschen Großstadt oder im Ruhrgebiet wohnt, hat es vielleicht schon erlebt: Immer mal wieder werden dort bei Bauarbeiten Fliegerbomben gefunden, die während des Krieges nicht detoniert sind – sogenannte Blindgänger. Diese meist britischen oder amerikanischen Bomben müssen dann vom Kampfmittelräumdienst entschärft werden. Was viele nicht wissen: Auch in der Nord- und Ostsee schlummern noch solche gefährliche Altlasten aus den Weltkriegen.
Über eine Million Tonnen Kriegsaltlasten
Der größte Teil der alten Minen, Bomben, Torpedos oder Granaten in Nord- und Ostsee wurde absichtlich dort versenkt, um sie nach Kriegsende möglichst schnell und einfach zu entsorgen. Manche dieser Altlasten sind jedoch auch in Folge von falsch gezielten Bombenabwürfen durch Flugzeuge, als Sperrgürtel aus Seeminen oder durch Marinemanöver in den Meeren gelandet. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlummern diese Kriegsüberbleibsel immer noch im Meer und zerfallen durch Korrosion immer mehr.
Aber wie viel Kriegsartillerie und Sprengkörper befinden sich vor der deutschen Küste? „Es wird geschätzt, dass allein in den deutschen Teilen der Nord- und Ostsee rund 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Munition und mehr als 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe aus beiden Weltkriegen liegen“, berichten Edmund Maser und Jennifer Strehse vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel. „Dazu kommt in den deutschen Gewässern eine unbekannte Menge moderner Munition von der Bundesmarine, der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR, der NATO und der sowjetischen Marine.“
Untersee-Deponien voller Sprengstoffe und Gift
Ein Teil dieser Altlasten liegt in offiziellen Versenkungsgebieten wie der „Kolberger Heide“ vor der Kieler Bucht. Zwischen zwei und neun Kilometer von der Küste entfernt liegen in diesem rund 15 Quadratkilometer großen Gebiet rund 30.000 Tonnen Munition der deutschen und teilweise britischen Marine. Darunter sind nicht nur Gewehre, Artilleriegeschütze und Marinemunition, sondern auch Bomben von bis zu 1.000 Kilogramm Größe, Raketen und meterlange Torpedos. Besonders kurios: Ein Lastkahn mit 500 Tonnen Granaten, der ursprünglich in der Meerenge „Kleiner Belt“ vor Dänemark versenkt worden war, wurde zunächst geborgen und dann in der Kolberger Heide erneut versenkt.
Es gibt in der Nord- und Ostsee auch einige Versenkungsgebiete, in denen potente Chemiewaffen entsorgt wurden, darunter Granaten, Bomben und Minen mit dem Nervengift Tabun, arsenhaltigen Reizgasen oder dem giftigen Senfgas. Alte Brandbomben sorgen zudem immer wieder dafür, dass der hochentzündliche und giftige weiße Phosphor manchmal an die Strände gespült wird. Dieser kann schnell mit Bernstein verwechselt werden und sich beim Aufsammeln entzünden.
Hohe Dunkelziffer
Während die Munitionsbelastung in den Hauptversenkungsgebieten bekannt und kartiert ist, ist die Lage in anderen Meeresgebieten weniger klar. Eines der Probleme: Noch sind nicht alle Quellen zugänglich und ausgewertet, die verraten, wo überall Kriegsaltlasten versenkt wurden, Übungen stattfanden oder Schiffe mit Munition an Bord untergegangen sind.
„Die jahrzehntealten Archive zu durchforsten, um vergangene Munitionsversenkungen verlässlich zu rekonstruieren, ist eine enorme Herausforderung“, erklären Aaron Beck vom GEOMAR und seine Kollegen. „Erschwert wird diese Aufgabe durch politische und sprachliche Hürden, militärische Geheimhaltung sowie den Umstand, dass es nur wenige Fachleute gibt, die das damalige militärische Vokabular verstehen.“ Akten aus den Archiven der Alliierten sind zum Großteil nicht digitalisiert und bei denen der russischen Marine kommt hinzu, dass sie für westliche Forschende meist nicht zugänglich sind.
Warum wird die Munition immer gefährlicher?
Aber was macht diese Kriegsaltlasten so gefährlich? Das salzige Meerwasser korrodiert die größtenteils metallischen Hüllen der Sprengkörper und Chemiewaffen. Damit wächst die Gefahr von Explosionen und unkontrollierten Schadstofffreisetzungen. Einigen Studien zufolge könnte sich die Korrosion pro Jahr um einen Millimeter ins Metall der Munition fressen. Das bedeutet: Nach 80 und mehr Jahren könnten selbst einen Zentimeter dicke Hüllen nahezu durchgerostet sein.
Dadurch besteht die Gefahr, dass die Sprengstoffe unkontrolliert explodieren – zum Beispiel, wenn sie von einem Schiffsanker getroffen werden oder beim Verlegen eines Unterseekabels. Zudem setzen Sprengstoffe und Chemiewaffen in Folge der voranschreitenden Korrosion immer mehr von ihrem Inhalt frei und verschiedenste giftige und umweltschädliche Schadstoffe gelangen ins Meer. Auch Muscheln reichern solche Chemikalien in ihrem Gewebe an – so könnten die Giftstoffe auch in die Nahrungskette gelangen.
Das Umweltbundesamt kommt in einer Studie zum Schluss, dass bisher zwar keine weitreichende Kontamination der Meeresumwelt oder der Nahrungskette in der deutschen Nord- und Ostsee nachweisbar ist. Allerdings wird das wahrscheinlich nicht so bleiben. Sie gehen davon aus, dass die Freisetzung der Schadstoffe durch den zunehmenden Zerfall der Munition zunehmen wird.
So werden Kriegsaltlasten geborgen – oder gesprengt
Wie können alte, korrodierte Minen, Bomben und Co aus dem Meer entfernt werden? Bislang gibt es kein Verfahren, um solche Kampfmittel vor Ort im Meer zu entschärfen. Haben Spezialisten und Taucher Sprengkörper am Meeresgrund identifiziert, müssen sie deswegen erst prüfen, ob die Waffen überhaupt stabil genug sind, um sie an Bord eines speziellen Räumschiffs zu hieven. Ist das der Fall, bringen diese Schiffe die Sprengkörper und Chemiewaffen an Land, wo sie dann von nur einigen wenigen, auf die Kampfmittelvernichtung spezialisierten Firmen entschärft und zerstört werden.
Sind bestimmte Bomben, Minen, Granaten und Co so stark korrodiert, dass sie nicht mehr transportiert werden können, müssen Sprengmeister sie kontrolliert unter Wasser sprengen. Dabei werden die Kampfmittel aber oft nicht vollständig zerstört. Als Folge verteilen sich giftiges TNT und andere Chemikalien erst recht im Meer. Nach Ansicht von Experten sollte eine solche Sprengung daher nur im Ausnahmefall erfolgen.
Zurzeit forschen in Deutschland mehrere Projekte an alternativen Methoden der Kampfmittelbeseitigung und auch an effizienteren Techniken für das Aufspüren und Kartieren alter Munition. Doch es bleibt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn je länger die alten Bomben, Minen, Granaten oder Chemiewaffen am Grund der Nord- und Ostsee liegen, desto brüchiger und schwerer zu bergen werden sie.