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Billionen Zikaden schwirren durch die USA

Die "Zikadokalypse" ist da: Seit einigen Tagen erheben sich in den USA unter ohrenbetäubenden Lärm hunderte Milliarden Zikaden aus dem Untergrund. Dass eine derartige Unzahl der schwarzen Insekten durch die Luft schwirrt, hat es zum letzten Mal vor 221 Jahren gegeben, als Thomas Jefferson noch US-Präsident war. Aber was sind die Folgen dieses Massenphänomens auf Mensch und Natur? Wieso gibt es gerade dieses Jahr eine solche Zikadenflut? Und wie koordinieren die Zikaden ihr gemeinsames Massenschlüpfen?
THE, 13.05.2024
17-Jahres-Zikade

© emptyclouds, iStock

Das Naturschauspiel, das sich derzeit in den USA beobachten lässt, erinnert an die biblischen Plagen. Im Südosten und im Mittleren Westen der USA krabbeln über mehrere Tage hinweg fast drei Billionen Zikaden aus dem Untergrund. In den betroffenen Gebieten werden die nächsten rund anderthalb Monate dadurch von lautem Gesang, Paarungen und anschließendem Sterben der Insekten geprägt sein.

Ohrenbetäubende Paarungslaute

Die jetzt in den USA schlüpfenden Zikaden gehören zu den Singzikaden der Gattung Magicicada. Diese schwarzen Insekten mit orangen Beinen und roten Augen sind mit ihren knapp drei Zentimeter Körpergröße zwar nicht viel größer als Wespen, doch dafür gibt es Unmengen von ihnen: Auf einem Hektar Fläche – etwa die Größe von einem Fußballfeld – können sich fast drei Millionen von ihnen tummeln. Aufeinander gestapelt würde der Zikadenschwarm 33-mal zum Mond und zurückreichen.

Dazu kommt, dass die paarungswilligen Zikadenmännchen ein für ihre Körpergröße überraschend lautes Organ besitzen: Wenn sich die individuellen Paarungsgesänge überlagern, erreichen sie einen Geräuschpegel von bis zu 100 Dezibel – so laut sind normalerweise vorbeifahrende LKWs oder Motorsägen. „Sie sollten damit rechnen, dass Sie jede Menge Lärm hören werden“, erklärte Jonathan Larson, Assistenzprofessor an der Universität von Kentucky gegenüber CNN.

17-Jahres-Zikaden in Illinois, 2007
17-Jahres-Zikaden, 2007

Das Rätsel der koordinierten Zikaden-Zyklen

Grund für die diesjährige Masseninvasion der orangebeinigen Insekten sind die unterschiedlich langen Lebenszyklen der Magicicada-Arten: Während einige von ihnen jährlich schlüpfen, erheben sich sogenannte periodische Zikaden nur alle 13 oder sogar 17 Jahre aus dem Untergrund. Im Jahr 2024 überschneiden sich die Zyklen der 13- und der 17-jährigen Populationen. "Es ist selten, dass wir eine Doppelbrut in diesem Ausmaß sehen", sagt Larson. Das nächste Mal wird dieses Schauspiel der Natur erst wieder im Jahr 2245 stattfinden.

Dieses Phänomen gibt Forschenden ein Rätsel auf: Wie schaffen es die Larven, gleichzeitig den Untergrund zu verlassen? Haben sie etwa eine Art innere Küchenuhr, die siebzehn Jahre lang herunterzählt, bis die Insekten schlüpfen? Nicht ganz. Zum einen knabbern Babyzikaden Baumwurzeln im Boden an. An den darin erhaltenen Stoffen erkennen sie den Jahreszyklus der Bäume und wissen, in welcher Jahreszeit sie sich befinden. Zum anderen schlüpfen nicht alle Billionen Zikaden zum haargenau gleichen Zeitpunkt, sondern innerhalb weniger Wochen in mehreren Schwärmen.

Da die Larven temperatursensibel sind, haben Zikaden, die sich an wärmeren Orten befinden, ihre Entwicklung schneller abgeschlossen und krabbeln früher ans Tageslicht. Doch auch innerhalb einzelner Bruten unterscheiden sich die individuellen Bodentemperaturen. Während einige Zikadenmamas ihre Jungen im warmen Boden eines kaum bewaldeten Bergs in der Sonne abgelegt haben, schlummern andere Mitglieder der Gruppe beispielsweise im angrenzenden kühlen, beschatteten Tal. Weshalb schlüpfen sie trotzdem gleichzeitig?

Karte zur Verbreitung der Arten der Gattung Magicicada in den USA
Verbreitung der Arten der Gattung Magicicada in den USA: grün = Verbreitung 17-Jahres-Zikaden; rot = Verbreitung 13-Jahres-Zikaden; blau = M. neotredecim; Gelbtöne = Überlappungsbereiche

© Alfred / Gemeinfrei

Zikadenbabys kommunizieren miteinander

Wissenschaftler der University of Cambridge in England haben das Mysterium gelüftet. Sie glauben, dass die Larven im Untergrund miteinander kommunizieren: Wenn eine der Babyzikaden ihre persönliche Schlüpf-Temperatur erreicht hat, gibt sie ihren umgebenden Artgenossen ein akustisches Zeichen. Diese melden zurück, ob auch sie ebenfalls die richtige Temperatur erreicht haben oder ob es ihnen noch zu kalt ist, um den Boden zu verlassen. Wenn der Großteil umliegender Jungzikaden die Reise ans Tageslicht noch nicht antreten kann, bleibt das gesamte Kollektiv im Boden. Irgendwann haben dann genügend Nymphen ihre Schlüpf-Temperatur erreicht und der gesamte Zikadenschwarm erhebt sich.

Sollte es diese Kommunikation der Babyzikaden tatsächlich geben, führt es nicht nur zu einem faszinierenden Naturschauspiel, es ist auch ein spannendes Beispiel für Schwarmintelligenz. "Wenn sich unsere Vermutung bestätigt, dass die Kommunikation zwischen den Nymphen eine Rolle bei der Entstehung des Schwarms spielt, wäre dies ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die darwinistische Evolution zum Nutzen der Gruppe und nicht nur des Einzelnen wirken kann", erklärt Raymond Goldstein von der University of Cambridge.

Zikadenfluten und Massengräber

Doch was passiert nach dem Massenschlupf der Singzikaden? Die Bewohner der betroffenen Regionen im Osten der USA können zumindest in einer Hinsicht beruhigt sein: Die Zikaden kommen nur sehr kurz für ihre lauten Paarungsballaden und den Geschlechtsakt ans Tageslicht. Nachdem sie etwa Mitte Mai bis Anfang Juni geschlüpft sind, bleiben die Insekten nur vier bis sechs Wochen für Gesang und Sex aktiv. Etwa Ende Juni haben die meisten dieser sechsbeinigen Krachmacher ihre Lebensaufgaben erfüllt und segnen das Zeitliche.

Danach ist für die Menschen in den Zikadengebieten allerdings erst mal Frühjahrsputz angesagt, denn nach dem Schlüpfen haben sich die orangebeinigen Insekten auf Zweigen und Ästen gehäutet. "Sie sollten damit rechnen, dass Ihre Bäume und Sträucher mit unzähligen Zikadenexoskeletten bedeckt sein werden", so Larson. Nach ihrem Ableben wollen die toten Tiere außerdem beseitigt werden. Sie treten teilweise in solchen Massen auf, dass in der Vergangenheit sogar eigens für die Insekten bestimmte Müllcontainer aufgestellt wurden.

Schlüpfende Zikaden
Die Beseitigung der beim Schlüpfen zurückbleibenden Larvenhäute und später der toten Zikaden kann zu einer echten Herausforderung werden.

© Jeff Herge, iStock

Ungefährlich und teilweise nützlich

Abgesehen von ihrer Lautstärke und dem Dreck, den sie verursachen, sind die schwarzen Insekten mit den auffällig roten Augen aber ungefährlich. Zikaden beißen und stechen nicht. Sie lassen auch Nutzpflanzen in Frieden und knabbern ihre Blätter nicht an. Sie saugen allerdings mit ihrem Rüssel Pflanzensaft. Ausschließlich einige junge Apfel-, Kirsch- oder Pfirsichbäume könnten zu Schaden kommen, wenn Zikaden mit ihrem Legebohrer die Rinde junger Äste anschneiden, um dorthinein ihre Eier zu legen. Im Herbst schlüpft aus diesen Eiern das erste Larvenstadium, verlässt den Ast und fällt zu Boden. Die Zikadenlarven graben sich nun ein und verbringen den Rest ihrer jahrelangen Entwicklungszeit im Untergrund – bis zum nächsten Massenschlupf.

Die wiederkehrenden Zikadenschwemmen haben für die Natur auch ihre Vorteile. So können Zikaden nicht nur als reichhaltige Nahrungsquelle für Vögel dienen, sondern nach ihrem Ableben auch Nährstoffe für den Boden liefern. Die Menschen sollten sie als „kostenlosen Dünger für die Pflanzen in ihren Gärten und Naturgebieten betrachten“, empfahl der US-Insektenkundler Floyd Shockley in der "New York Times". Außerdem sind die Tiere faszinierend: "Dies sind einige der coolsten Insekten in Amerika", sagt Larson. "Ich hoffe wirklich, dass die Menschen sie als das zu schätzen wissen, was sie sind: ein einzigartiges Naturphänomen, das man sonst nirgendwo zu sehen bekommt."

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