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Lise Meitner – verkannte Pionierin der Kernspaltung
Lise Meitner wird 1878 in eine Zeit hineingeboren, in der eine wissenschaftliche Laufbahn für Frauen fast undenkbar erscheint - erst recht, wenn es um "harte" Naturwissenschaften wie Physik und Mathematik geht. In Meitners Heimat Wien sind Gymnasien den Jungen vorgehalten, Mädchen können allenfalls die Bürgerschule besuchen. Doch Lise, Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts, will mehr. Sie bereitet sich nach Ende ihrer offiziellen Schullaufbahn im Selbststudium auf das Abitur vor und legt es 1901 – mit 22 Jahren – als externer Prüfling erfolgreich ab.
Noch im gleichen Jahr beginnt Meitner an der Universität Wien ein Studium der Physik, Mathematik und Philosophie. Dabei kommt ihr zugute, dass in Österreich Frauen bereits zum Studium zugelassen sind, in Preußen ist dies dagegen noch nicht der Fall. Der renommierte Physiker Ludwig Boltzmann, einer ihrer Lehrer, weckt das Interesse der jungen Forscherin an atomaren Vorgängen und an der Radioaktivität. 1906 promoviert Meitner und wird die erste zweite Physik-Doktorin der Wiener Universität.
Planck, Hahn und Einstein
Den entscheidenden Schub aber bekommt Meitners Laufbahn, als sie im Jahr 1907 an die Berliner Kaiser-Wilhelm-Universität wechselt, um dort von Max Planck zu lernen und mit ihm zu arbeiten. Weil Frauen an der preußischen Universität offiziell nicht zugelassen sind, muss sie das chemische Institut durch den Hintereingang betreten. Dort lernt sie auch den jungen Chemiker Otto Hahn kennen – mit dem sie 30 Jahre lang eng zusammenarbeiten wird. Bereits 1909 halten beide gemeinsam einen Vortrag über eine neue Methode, radioaktive Zerfallsprodukte des Thoriums herzustellen.
Ansonsten allerdings macht Meitners Forschung nur wenig Fortschritte. Ab 1912 erhält sie zwar eine Position als Assistentin bei Max Planck, ihre Aufgabe erschöpft sich aber zunächst im Korrigieren von Übungsaufgaben seiner Studenten. "Von der Physik weiß ich nichts Interessantes zu erzählen. Wir haben in unseren Arbeiten in keiner Hinsicht einen Abschluss erreicht, die Resultate sind aber
wenigstens nicht so, dass man sie als unbedingt negativ bezeichnen muss", schreibt Meitner 1913 an eine Freundin.
1914 begegnet Meitner bei einem Vortrag auch Albert Einstein. "Einstein ist der komischste Kerl von der Welt", beschreibt sie die Begegnung hinterher. "Er sagte plötzlich zu mir: Sie sind ja Österreicherin, das hört man an Ihrer Aussprache. Warum sind Sie denn nicht in Wien am Radiuminstitut? Und als ich drauf sagte, dass sie dort eben Mädchen nicht anstellten, sagte er: ‚Nein, das ist doch unerhört. Wollen Sie nach Wien? Ich schreibe sofort ans Ministerium, Sie müssen dort eine Stelle kriegen.‘" Doch der Erste Weltkrieg unterbricht erst einmal alle Forschungen, Meitner arbeitet in dieser Zeit in einem Lazarett der österreichischen Armee.
Uran unter Beschuss
Nach dem Krieg nehmen Meitners Karriere und ihre Forschung Fahrt auf: 1917 bekommt sie am Institut für Chemie ihre eigene "radiophysikalische Abteilung", 1918 entdeckt sie gemeinsam mit Otto Hahn das Element Proactinium. Sie forscht nun vor allem an den verschiedenen radioaktiven Strahlenformen und beweist unter anderem, wann und wo die energiereiche Gammastrahlung beim radioaktiven Zerfall entsteht. Ihre Arbeiten machen sie nun auch international bekannt. 1926 wird Meitner zur außerordentlichen Professorin für experimentelle Kernphysik ernannt - und damit Deutschlands erste Physikprofessorin.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bekommt Meitner jedoch Probleme. Als Frau und noch dazu Jüdin - wenngleich längst zum Christentum konvertiert – passt sie nicht zur NS-Ideologie. Noch 1933 wird ihr die Lehrbefugnis entzogen, dennoch kann Meitner zunächst noch inoffiziell weiterarbeiten. Gemeinsam mit Otto Hahn und dem jungen Chemiker Fritz Straßmann forscht sie unter anderem an der Erzeugung von Transuranen – radioaktiven schweren Elementen, die durch Beschuss von Uran mit Neutronen entstehen können.
1938 muss Meitner dann doch vor den Nazis fliehen und emigriert nach Schweden. Dort setzt sie am Nobel-institut in Stockholm ihre Forschung gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch fort –steht aber weiterhin in regem Briefaustausch mit Otto Hahn. Sie berät ihn unter anderem zum Experimentaufbau.
Die Entdeckung der Kernspaltung
Am 19. Dezember 1938 teilt Hahn seiner Kollegin Meitner dann in einem Brief das überraschende Ergebnis eines Experiments mit: Statt ein neues schwereres Element zu bilden, scheint das Uran zu kleineren Isotopen "zerplatzt" zu sein. "Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, dass es eigentlich nicht in Barium zerplatzen kann", schreibt Hahn.
Daraufhin machen sich Meitner und Frisch in Schweden an die Arbeit und suchen nach einer theoretischen Erklärung für das seltsame Zerplatzen. Wenig später hat sie die Antwort gefunden: Der Beschuss mit Neutronen hat das Uran-Atom gespalten – Otto Hahn hat damit erstmals eine Kernspaltung durchgeführt und nachgewiesen. Für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung wurde Otto Hahn der Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944 verliehen. Lise Meitner und Otto Frisch aber gingen leer aus.
Bis zu ihrem Tod am 27. Oktober 1968 im britischen Cambridge bekommt Lise Meitner zwar mehrere Wissenschaftspreise verleihen, niemals aber den Nobelpreis. "Aus heutiger Sicht ist das nicht mehr nachvollziehbar", sagt Dieter Meschede, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Doch als Frau, Jüdin und noch dazu aus Deutschland Vertriebene hat Meitner zur damaligen Zeit beim Nobelpreiskomitee schlechte Karten.
Heute allerdings ist klar, dass sie Otto Hahn und seinem Team in nichts nachstand. "Lise Meitner war eine der bedeutendsten Physikerinnen ihrer Zeit und ist durch ihr herausragendes wissenschaftliches und soziales Engagement im besten Sinne ein Vorbild", sagt Meschede.