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Interview: 80 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs
Das Ende war schon lange absehbar: Bereits 1943, mit dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad und der Landung alliierter Truppen in der Normandie Anfang Juni 1944, war die Niederlage des Deutschen Reichs nicht mehr aufzuhalten. Doch das Nazi-Regime versuchte – buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste – sei Ende hinauszuzögern. Selbst Jugendliche wurden noch in einem „Volkssturm“ an die näher rückenden Fronten geschickt. Als Folge starben noch in den letzten Kriegstagen tausende Menschen – weil Hitler und, nach seinem Selbstmord am 30. April 1945, die Reste der NS-Regierung unter Großadmiral Karl Dönitz die Kapitulation hinauszögerten.
Erst Anfang Mai 1945 war es dann endlich soweit: Am 7. Mai unterschrieb Generaloberst Jodl die bedingungslose Kapitulation Deutschlands im Hauptquartier der alliierten Streitkräfte. Die Kapitulation trat am 8. Mai in Kraft. Am diesem Tag unterzeichnete Generalfeldmarschall Keitel auch eine entsprechende Kapitulationsurkunde im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst.
Damit war der Zweite Weltkrieg beendet. Als Folge dieses Krieges starben mehr als 60 Millionen Menschen, 17 Millionen waren verschollen. Während der NS-Zeit ermordeten die Nazis zudem mehr als sechs Millionen europäische Juden in Konzentrationslagern, Gaskammern und durch Massenerschießungen.
Der Historiker Johannes Großmann von der Ludwigs-Maximilians-Universität erklärt, wie die Menschen in Deutschland das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebten und wie es nach dem Krieg weiterging.
Wie erlebte die Bevölkerung die unmittelbare Nachkriegszeit?
Johannes Großmann: Die meisten waren sicher erleichtert – aber auch im Unklaren darüber, wie sich die Alliierten ihnen gegenüber nun verhalten würden. Denn über den Vernichtungskrieg und die Gewalt gegen die Juden war laut neuerer Studien eine große Mehrheit der Deutschen durch direkte Erlebnisse, Schilderungen aus erster Hand und Gerüchte im Bilde – auch wenn die NS-Propaganda Informationen darüber konsequent zurückhielt.
Nach Kriegsende präsentierten die Alliierten Plakate mit Bildern aus den Konzentrationslagern, auf denen ausgehungerte Gestalten und Leichenberge zu sehen waren. Und sie zwangen Deutsche, sich Lager wie Buchenwald oder Dachau mit eigenen Augen anzusehen.
Am 8. Mai endete also jegliche Gewalt?
Großmann: Nein, sie blieb präsent – einerseits dadurch, dass viele durch erlebte oder selbst ausgeübte Gewalt abgestumpft waren, andererseits durch Waffen, die in private Hände gelangten und für Raubüberfälle und Plünderungen genutzt wurden. In den ersten Nachkriegswochen zogen Gangs marodierend durchs Land: Manche waren Opfer des NS-Regimes mit Rachegefühlen, andere ideologisch Verblendete oder einfach nur Kriminelle.
Auch Gewalt durch Besatzer spielte eine Rolle; sexuelle Übergriffe waren omnipräsent. Hier markierte das formelle Kriegsende aber tatsächlich einen Einschnitt, da die Alliierten nun sehr klare Befehle erließen, um die Gewalt gegen Zivilisten zu unterbinden – mit harten Strafen bis hin zu Todesurteilen. Schließlich konnten sie dem Vorwurf der Siegerjustiz nur dann glaubwürdig entgegentreten, wenn sie selbst keine Kriegsverbrechen verübten.
Auch in polnisch besetzten Gebieten oder der Tschechoslowakei ging der Krieg als Gewaltereignis weiter. Die historische Forschung ist sich heute einig, dass gerade Kriege, die weit über militärische Konflikte hinausgehen, etwa durch systematischen Genozid und Bevölkerungsverschiebung wie im Zweiten Weltkrieg, nicht einfach auf Knopfdruck enden.
Wie erging es Regimegegnern nach Kriegsende?
Großmann: Nicht kompromittierte Eliten wurden gesucht, um unter alliierter Ägide Gesellschaft und Politik neu aufzubauen. Die Alliierten setzten für die lokalen Verwaltungen oft politische Akteure ein, die vom NS-Regime kaltgestellt worden waren: Sozialdemokraten, Zentrumspolitiker, aber auch nationalistische oder nationalliberale Kräfte, die aus monarchistischen oder religiösen Motiven gegen den Nationalsozialismus standen. Nicht alle waren lupenreine Demokraten.
Gefragt waren „Remigranten“, die vor dem NS-Regime ins Ausland geflohen waren und nun oft mit guten Sprachkenntnissen zurückkehrten. Manche wollten jedoch nicht zurückkommen, andere taten sich schwer, in eine Gesellschaft zurückzufinden, die sie teils immer noch als „Vaterlandsverräter“ stigmatisierte.
Was geschah mit den überlebenden Opfern des NS-Regimes und Vertriebenen?
Großmann: Vormalige Opfer des NS-Regimes und Vertriebene lebten nach Kriegsende oft entwurzelt in Deutschland. Zu den Millionen „dislozierten Personen“ zählten befreite KZ-Häftlinge – jüdische Überlebende, vom NS-Regime diffamierte oder queere Menschen – ebenso wie Millionen von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern aus Russland, der Ukraine und anderen ehemals besetzten Gebieten. Gewalt und Bevölkerungsverschiebung waren während des Zweiten Weltkriegs Hand in Hand gegangen.
Doch viele wollten nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren: Die jüdische Bevölkerung war etwa in Polen, der Slowakei und Ungarn auch nach dem Krieg von Pogromen bedroht. Oft blieben Überlebende deshalb zunächst sogar in den ehemaligen Konzentrationslagern, die die Alliierten zu „Displaced Persons Camps“ umbauten. Diese schwer traumatisierten Menschen brauchten Versorgung und eine Lebensperspektive, die viele in der Immigration nach Palästina oder in die USA fanden. Auch ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zögerten, nach Hause zurückzukehren, wo Gefangenschaft als Feigheit vor dem Feind und Kollaboration angesehen wurde. Viele blieben in Westeuropa oder emigrierten nach Nordamerika oder Kanada.
Wie verhielten sich deutsche Nazis nach dem Krieg?
Großmann: Ein Weg, den manche NS- und Wehrmachtseliten aus Ausweglosigkeit oder ideologischer Verblendung wählten, war Selbstmord, oft kollektiv. Ein zweiter war die Flucht – etwa über die berühmte „Rattenlinie“, über Österreich und Italien nach Lateinamerika. Die meisten Menschen aber nahmen die ausgestreckte Hand der Alliierten gerne an und arrangierten sich.
Viele wollten ihre eigene Schuld nicht eingestehen und von den Gräueltaten nichts gewusst haben, dichteten Lebensläufe um oder gaben an, jemandem geholfen zu haben. Andere beriefen sich darauf, nur vom Regime verführt worden zu sein. In dieser Sichtweise wurden sie auch durch die Nürnberger Prozesse 1945 und 1946 bestärkt, bei denen vorrangig politische und militärische Führungseliten vor Gericht standen.
Welche Bedeutung hat die unmittelbare Nachkriegszeit heute?
Großmann: Sie war ein Ausnahmezustand, der für die weitere deutsche Geschichte elementar sein sollte. Viele Grundlagen der heutigen politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland gehen auf sie zurück – vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach dem Vorbild der britischen BBC über die Länder- und Kommunalverfassungen bis hin zum Grundgesetz. Auch die Umstellung der auf „totalen Krieg“ getrimmten Kriegswirtschaft auf eine exportorientierte Friedenswirtschaft wurde von den Alliierten begleitet.
Das kulturelle und wissenschaftliche Leben wurde neu aufgebaut. Besonders die Wiedereröffnung und Neugründung von Universitäten war den Alliierten wichtig. Sie waren überzeugt, dass nur Bildung ein demokratisches, friedfertiges Deutschland schaffen konnte.