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Phänomen Rekordkrankenstand: Macht Deutschland blau?
Zuletzt hat der Vorstandsvorsitzende des Versicherungskonzerns Allianz, Oliver Bäte, Aufmerksamkeit mit einem kontroversen Vorschlag erregt: In einem Interview mit dem Handelsblatt schlug er vor, den sogenannten Karenztag wieder einzuführen, um die durch die Rekordkrankenstände gestiegenen Kosten im Gesundheitssystem zu senken. Das würde bedeuten, dass Arbeitnehmer an ihrem ersten Krankheitstag keinen Lohn bekommen. Auch andere wie der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen und der Mercedes-Chef Ola Källenius unterstützen Bätes Vorschlag.
Deutlich mehr Atemwegserkrankungen
Aber zunächst zurück zu den Fakten: In den Jahren 2021 und 2022 stieg der Krankenstand in Deutschland um fast 40 Prozent von vier auf 5,5 Prozent an, wie ein Report der DAK-Gesundheit offenlegt. Damit stieg auch die Zahl der durchschnittlichen Fehltage pro Kopf um knapp 38 Prozent von 15 auf 20 Tage an. Das ist deutlich mehr als in vielen unserer Nachbarländer. Die erhöhten Krankenstände und Fehltage halten seitdem an.
Als Grund dafür nennt die DAK vor allem einen Anstieg von akuten Infektionen der oberen Atemwege. Sie sind für etwa ein Drittel des Anstiegs an Fehltagen verantwortlich. Corona-Infektionen machen aber nur ein Fünftel dieser Atemwegserkrankungen aus. Außerdem interessant: Die meisten der im Jahr 2022 neu dazugekommenen Fehltage entstanden durch Krankschreibungen, die acht bis 14 Tage andauerten.
„Am auffälligsten ist der Anstieg bei den Atemwegserkrankungen und bei den kurzen Erkrankungen, das kann auch eine Spätfolge von Corona sein“, erklärt Volker Nürnberg, der als Experte für Betriebliches Gesundheitsmanagement die DAK-Studie fachlich begleitet hat. „Hier müssen wir dringend zum Beispiel mit Grippeschutzimpfungen und Hygienemaßnahmen entgegenwirken.“
Was steckt dahinter?
Aber haben vielleicht auch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und die telefonische Krankmeldung etwas damit zu tun? Seit Ende 2021 leiten Arztpraxen die AU ihrer Patienten direkt an die Krankenversicherungen weiter. Zuvor mussten das die Versicherten in Form eines Papierausdrucks selbst übernehmen – freiwillig.
Ein Teil des Anstiegs bei den Krankschreibungen könnte tatsächlich auf die Einführung der elektronischen Krankschreibung zurückgehen. Denn die Krankenkassen erfassen dadurch nun alle Krankschreibungen: „Die hatten wir bis zur Einführung der eAU nicht, weil der Versicherte [...] den Zettel, der an die Krankenkasse ging, häufig gar nicht weggeschickt hat, sondern nur den, der an seinen Arbeitgeber ging“, erklärt Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt gegenüber der dpa. Der Anstieg der Krankschreibungen wegen Atemwegsinfekten basiert zu 60 Prozent auf der eAU, wie die Studie der DAK zeigt.
Demgegenüber zeigt die Analyse, dass die telefonische Krankschreibung, welche seit Mai 2020 eine Krankschreibung ohne Arztbesuch ermöglicht, nicht für den Rekordkrankenstand mitverantwortlich ist. Die meisten der Befragten geben an, die telefonische Krankschreibung zu nutzen, um keine weiteren Patienten im Wartezimmer anzustecken (86 Prozent) oder weil ihr eigener gesundheitlicher Zustand keinen Arztbesuch zugelassen habe (72 Prozent).
Wie sinnvoll ist das Aussetzen der Lohnfortzahlung?
Doch auch ein weiterer Trend zeigt sich: 63 Prozent der Befragten geben an, sich immer ein ärztliches Attest ausstellen zu lassen – auch wenn das in der Regel erst nach dem dritten Krankheitstag nötig ist. „Die Beschäftigten holen sich ein ärztliches Attest, um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, sie würden ohne triftigen Grund der Arbeit fernbleiben“, berichtet DAK-Vorstandschef Andreas Strom.
„Unsere Studie zeigt, dass weder die telefonische Krankschreibung noch das Blaumachen die wirklichen Gründe für den sprunghaften Anstieg sind“, so Strom weiter. „Entscheidend ist vor allem ein statistischer Effekt, verursacht durch die neue elektronische Erfassung der Krankschreibungen. Und auch die Erkältungswellen haben nachweislich eine große Rolle gespielt.“
Nach Ansicht vieler Experten ist der Vorschlag von Allianz-Chef Bäte daher wenig sinnvoll – und könnte die Krankheitsfälle sogar erhöhen. Denn der Verlust der Lohnfortzahlung am ersten Tag der Krankmeldung weckt die Gefahr, dass Menschen auch dann zur Arbeit erscheinen, wenn sie krank sind und andere anstecken könnten – und das hätte dann im Extrem größere wirtschaftliche Folgen als der einzelne Kranke.