Deutsche Volkslieder sind bei vielen verpönt. Warum eigentlich? Weil es deutsche sind? Volkslieder wurden ursprünglich mündlich weitergegeben. Sie spiegelten Charakter, Sitten, die ganze Geschichte eines Landes wider. Wenn deutsche Volkslieder sterben, geht zugleich ein bedeutendes Erbe unter. Faktum ist: Heute wird in Deutschland wenig gesungen, zumindest scheint es so, wenn es um das Volkslied geht. Das ist in vielen anderen Ländern nicht so. Die Kelly Family sang beispielsweise zu Beginn ihrer Karriere ein irisches Volkslied nach dem anderen. Warum sind deutsche Volkslieder so unbeliebt? Unsere Autorin Dorothea Schmidt ist der Frage nachgegangen. Hören Sie heute ihren Beitrag: „Das deutsche Volkslied kehrt zurück“
„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“, heißt es in einem Volkslied. Den Schuh vom bösen Menschen mag man sich nicht gern anziehen. Aber - fühlen Sie sich auch ertappt? Es drängt sich die Frage auf, ob es an Fröhlichkeit und Ungezwungenheit mangelt, dass bei uns vielerorts so wenig gesungen wird. Es gibt Volkslieder, die kennt jeder; wie der "Kuckuck". Genau genommen kennt man die Melodie. Beim Text hört es dagegen oft schon auf. Es ist faszinierend, wenn jemand Volkslieder aus der Kindheit vor sich hersingen kann. Man selbst fühlt sich dann manchmal beklommen: Habe ich alles vergessen oder das alles gar nicht erst gelernt?
Kinder lieben das Singen. Ob sie fröhlich den Biene Maja-Song schmettern, das eingängige „Ein Vogelfänger bin ich ja“ aus Mozarts Zauberflöte oder alte Volks- und Kinderlieder hören wollen. Für sie ist das Singen normal. Aber oft übertönen dann Schlager, Pop- und Rocklieder aus dem Radio oder von aktuellen CD’s das alte Volkslied. Bestenfalls laufen im Fernsehen Volksmusikparaden oder Musikantenstadl, die junge Menschen abschrecken. Und die verwechseln Volkslieder dann schnell mit volkstümlicher Musik.
Dabei hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Volkslieder sind aus dem Volk heraus entstandene und über Generationen weitergegebene Lieder, deren Autoren und Komponisten oft unbekannt waren. Sie spiegeln Denkart, Sitten, Sprache, Wissenschaft, Gefühle eines Volkes wider. Mit volkstümlicher Musik dagegen ist die reine Unterhaltungsmusik à la Musikantenstadl gemeint. Sie ist musikalisch einfach strukturiert und folkloristisch instrumentiert. Oder mit anderen Worten, sie imitiert Volksmusik.
Ebenfalls oft verwechselt werden Kunst- und Volkslied. In der Regel ist der Komponist des Kunstliedes bekannt, während der des Volksliedes anonym ist. Ansonsten charakterisiert das Kunstlied die Vertonung von oft gehobener Lyrik. Kunstlieder stellen an die Sänger einen wesentlich höheren Anspruch und gehören somit ins Repertoire professioneller Musiker. Es kommt aber auch vor, dass Kunstlieder in Volkslieder übergehen. Das ist bei Franz Schuberts „Am Brunnen vor dem Tore“ der Fall. Der Text entstammt dem Gedichtzyklus „Die Winterreise“ von Wilhelm Müller, den Schubert vertont hat.
Wenn man also Volkslieder im Studium oder allenfalls noch im Kindergarten singt, weil sie später als zur älteren Generation gehörig oder als Rumtatamusik abgetan werden, wundert es nicht, dass alles, was mit „Volkslied“ zu tun hat, in die Schublade mit aussortiertem Krimskrams gesteckt wird.
Darüber hinaus wird es der Volksliedpflege auch nicht allzu leicht gemacht. Wer heute traditionelle Volkslieder kopieren möchte, bekommt es mit der Gema zu tun. Singe, wem Gesang gegeben, heißt es in einem Volkslied aus dem 19. Jahrhundert. Und zahle, wer den Text kopiert, so wurde im Zusammenhang mit der Gema der deutsche Dichter Ludwig Uhland gern frei zitiert. Kindergärten müssen 56 Euro plus Mehrwertsteuer für bis zu fünfhundert Kopien zahlen. Kindergärten unter kirchlicher Trägerschaft haben wie viele andere Dachverbände, zu denen auch Kommunen gehören, einen Gesamtvertrag mit der Gema abgeschlossen. Sie haben dann Anspruch auf einen so genannten Gesamtvertragsnachlass über 20 Prozent. Generell verweist die Gema im Zusammenhang mit der Zahlungspflicht auf die Freiwilligkeit der Kopien. Das mag stimmen, es zeigt sich aber, dass Eltern kaum Liederbücher zu Hause im Schrank stehen haben.
Was heute zum deutschen Volkslied gerechnet wird, geht auf große Volksliedsammlungen des 19. Jahrhunderts zurück. Bekannt sind beispielsweise „Des Knaben Wunderhorn“ oder die „Volkslieder der Deutschen“.
Dass Volks- und Kinderlieder keineswegs bloß ins Kinderzimmer oder in den Musikantenstadl gehören, zeigen große Komponisten. Bela Bartok zum Beispiel hat sehr fetzige und hörenswerte Stücke auf der Basis von ungarischen Volksliedern geschrieben. Volkslieder waren Quelle seiner Inspiration.
Auch Brahms beschäftige sich ein Leben lang mit dem Volkslied. Von ihm stammt das bekannte Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht“. Er hat es nach einer Volksweise komponiert. Wer sich über die Zeile „mit Näglein bedeckt“ den Kopf zerbrochen haben sollte: Das Näglein war früher das, was wir heute als Gewürznelke kennen. Damals hat man das Näglein also in die Wiege gelegt, um Krankheiten und Insekten fernzuhalten. „Guten Abend, gute Nacht“ ist für Brahms zum Sinnbild für Schlichtheit und Prägnanz geworden und zeigt damit den Charakter von Volksliedern allgemein: Sie sind einfach und hochgradig eingängig.
Eine für die eigene Nation bedeutsame Stellung als Volkslied-Liebhaber nimmt der gebürtige Pole Frédérique Chopin ein. Er verwob seine Klavierstücke mit polnischen Tänzen und Volksliedern und schrieb damit für die Polen, denen ein eigener Staat verwehrt blieb, eine Nationalmusik. In Chopins Werken fanden die Polen ihre Identität.
Dieser Umstand macht deutlich, wie eng das Liedgut einer Nation mit deren Geschichte verknüpft und daher ein wertvolles Stück Tradition ist, das bewahrt werden will. Volkslieder haben einen stark nationalen Charakter, sie spiegeln die Seele eines Volkes wider. Johann Gottfried Herder, der den Begriff „Volkslied“ 1773 als Lehnübersetzung des englischen „popular music“ einführte, sah in Volksliedern die „bedeutendsten Grundgesänge einer Nation“. Die Kriege und Hungersnöte der deutschen Geschichte schlugen sich auch in Liedtexten nieder. Das Lied „'s wieder März geworden“ zum Beispiel behandelt das Ende der Märzrevolution von 1848/49, die brutal niedergeschlagen wurde.
In manchen deutschen Volksweisen schwingt auch die braune Vergangenheit mit. Das ist ein Grund, warum unsere Volkslieder ein eher schattenhaftes Dasein fristen. Das Lied „Herzilein, Du darfst ruhig traurig sein“ ist eines aus der Nazi-Zeit, in der Volkslieder für ideologische Zwecke missbraucht wurden.
Es gibt aber auch schöne Beispiele aus der Volksliedlandschaft, die über deutsche Grenzen hinaus von Bedeutung sind. „Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald“ beispielsweise.
In Österreich ist die Melodie zum Text „Stieglitz, Stieglitz, 's Zeiserl is krank“ bekannt. Das Lied kam Anfang des 19. Jahrhunderts in Österreich und Bayern in Umlauf. Die Volksliedsammler Franz Ziska und Julius Max Schottky sollen es in der Wiener Umgebung aufgezeichnet haben. Eltern sangen es ihren Kindern gern vor, wenn diese krank waren oder sich weh getan haben.
Den Text „Kuckuck, Kuckuck“ verband erst Hoffman von Fallersleben später mit der Stieglitz-Melodie. Es ist ein Frühlingsgedicht, in dem es um Frühlingsbeginn und Winterabschied geht. Der „Kuckuck“ machte dem Stieglitz ab Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich den Garaus. Richtig populär wurde es aber erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges; es erschien in österreichischen und bayerischen Kindergarten- und Schulliederbüchern. Heute gibt es sogar eine türkische Fassung; allerdings als Morgenlied, um schläfrige Schüler zu wecken.
Um den Schlaf geht es auch in dem nächsten Lied. Es ist ein bekanntes internationales Volkslied, kommt als „Frère Jaques“ aus Frankreich und ist in Deutschland als „Bruder Jakob“ bekannt.
Einer Legende nach war Bruder Jakob ein Pilger, der auf dem Jakobsweg die Messe verschlafen hat. Und so heißt es, das Lied sei im Mittelalter von Pilgern gesungen worden, die der Tradition nach mit dem ersten Glockenschlag in der Früh ihr Nachtlager verließen, die Messe besuchten und dann die nächste Etappe wanderten. Nachdem sich auf dem Jakobsweg Menschen aus vielen verschiedenen Ländern treffen, wundert es nicht, dass es das Lied auch in viele Sprachen übersetzt wurde.
Ebenfalls international bekannt ist das Lied „Amazing Grace“. Es ist schon weit über 200 Jahre alt und geht auf einen Seefahrer und Sklavenhändler namens John Newton zurück. In schwerer Seenot am 10. Mai 1748 soll Gott ihn berührt haben. Nach dieser Art „Pauluserlebnis“ wandte sich Newton dem Glauben zu. Er wurde Priester. „Amazing Grace“ ist Ausdruck seiner Seele, ein Herzensgebet. Übersetzt heißt es in der ersten Strophe:
Unglaubliche Gnade, wie süß der Klang,
Die einen armen Sünder wie mich errettete!
Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden,
War blind, aber nun sehe ich.
Das Lied ist bis heute außerordentlich beliebt. 1972 wurde es in einer Version der Royal Scots Dragoon Guards sogar zur Nummer 1 der Charts. Aber auch Louis Armstrong, Mahalia Jackson, Janis Joplin oder Elvis Presley interpretierten den Song.
In Volksliedern lebt ein Stück unserer Geschichte weiter. Von wegen also, Volksmusik sei langweilig oder Kinderkram. Sony hat im Sommer 2010 eine CD mit Volksliedern unter dem Titel „Wenn ich ein Vöglein wär'“ herausgebracht. Es singen keine Kinder, sondern professionell ausgebildete, hochkarätige Sänger wie Annette Dasch, Christiane Karg oder Klaus Florian Vogt – ganz ohne Kitsch oder Musikantenstadlflair, sondern Volkslied pur, für Jung und Alt. Das Magazin „Rondo“ schrieb im Zusammenhang mit der CD von der „Ehrenrettung dieser unglücklichen Gattung“ und die „Welt“ konstatierte einfach: „Das deutsche Volkslied kehrt zurück:“
Dorothea Schmidt, wissen.de-Redaktion