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Selbstorganisation: Strukturen im Chaos

Was bedeutet Selbstorganisation?

Das Zusammenfügen kleinerer Einheiten zu größeren, wohl geordneten Systemen, z. B. von einzelnen Wassermolekülen zu Eis, von Proteinen und Kohlenhydraten zu lebendem Gewebe oder von Ameisen oder Menschen zu komplex aufgebauten Staaten. Auch wenn die Namen etwas anderes nahelegen, ist das Phänomen der Selbstorganisation verwandt mit einem anderen naturwissenschaftlichen Modethema, der Chaostheorie. Dies liegt daran, dass »Chaos« in der Physik nicht als ein strukturloses wildes Durcheinander aufgefasst wird, sondern als ein Zustand, der quasi auf der Kippe zwischen Ordnung und Regellosigkeit steht. In diesem Zusammenhang kommen auch die auf der folgenden Doppelseite behandelten Fraktale ins Bild, geometrische Gebilde wie das sog. Apfelmännchen, die als Computergrafiken bekannt geworden sind.

Selbstorganisation ist kein Widerspruch zum berühmten 2. Hauptsatz der Wärmelehre, nach dem die Entropie oder Unordnung in einem geschlossenen System immer mehr anwächst. Sie tritt nämlich nur in offenen Systemen auf, die sich zudem nicht in einem Gleichgewichtszustand befinden, etwa weil sie wachsen. Selbstorganisiertes Wachstum ist einerseits dem Zufall unterworfen, andererseits folgt es recht einfachen Regeln. So lagern sich etwa Wassermoleküle immer in 60°-Winkeln aneinander und die Zahl der Einzelblüten in einer Sonnenblume ist – in einem bestimmten Abstand vom Zentrum – stets eine sog. Fibonacci-Zahl, d. h., sie wächst in genau bestimmter Folge an.

Wie wachsen Schneeflocken?

Durch Anlagerung von Wassermolekülen an andere. Weil die Moleküle gewinkelt sind (sie ähneln entfernt einem Micky-Maus-Kopf, dessen Ohren die Wasserstoffatome bilden), bevorzugen sie Strukturen mit 60°-Winkeln. Deshalb nehmen perfekte Eiskristalle eine sechseckige Gestalt an. Bei nicht perfektem Wachstum lagern sich an die sechs Seiten eines einmal entstandenen Kristallisationskeims unterschiedlich schnell weitere Moleküle an. Zufällige Anfangsunterschiede prägen das weitere Wachstum. Aus diesem Grund gleicht zwar, wie das Sprichwort ganz richtig feststellt, keine Schneeflocke der anderen. Doch alle besitzen eine sechszählig symmetrische Grundstruktur.

Was sind Fibonacci-Zahlen – und was haben sie mit Wachstum zu tun?

Fibonacci-Zahlen nennt man eine Folge von Zahlen, bei denen jedes Element die Summe der beiden vorangegangenen Glieder ist: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 44, 65, … Auf diese Zahlenfolge stieß der italienische Mathematiker Leonardo Fibonacci vor etwa 800 Jahren, als er sich mit der Frage beschäftigte, wie schnell sich eigentlich Kaninchen vermehren. Er begann mit einem Kaninchenpaar und berechnete, wie schnell die Population anwuchs. Dabei ging er von vereinfachenden Annahmen aus, etwa der, dass seine Modellkaninchen unsterblich seien. Das Ergebnis war die Zahlenfolge 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, …, deren Elemente heute zu Ehren ihres Erfinders als Fibonacci-Zahlen bezeichnet werden.

Natürlich vermehren sich Kaninchen in Wirklichkeit ganz anders, trotzdem gibt es in der Natur viele Beispiele, in der sich diese Zahlenreihe in der Gestalt von Lebewesen wiederfinden lässt, z. B. bei Sonnenblumen, Margeriten oder Romanesco-Kohl.

Konstruieren sich unsere Computer bald selbst?

Wenn es nach den Physikern geht: Ja. Sie setzen große Hoffnungen darauf, die heutigen Herstellungsverfahren von Mikrochips durch selbstorganisierte Prozesse auf der Nanometerskala zu ersetzen. Auf diese Weise sollen die immer größeren Schwierigkeiten überwunden werden, die sich beim immer kleineren Computerchip auftun. Gelänge es, Schaltkreise zu entwerfen, die sich aus wenigen Molekülen nach einfachen Regeln »von selbst« zusammenbauen, könnten noch einmal gewaltige Steigerungen bei Miniaturisierung, Rechenleistung und Speicherkapazität erreicht werden – und das bei viel geringeren Produktionskosten!

Was ist der Goldene Schnitt?

Der Goldene Schnitt ist eine schon im Altertum erkannte Regel, derzufolge zwei Größen als besonders harmonisch empfunden werden, wenn sie in einem bestimmten Zahlenverhältnis zueinander stehen – eben dem Goldenen Schnitt. Dieses Zahlenverhältnis wird als die Zahl Phi bezeichnet und beträgt etwa 1,61803… Dieses Verhältnis begegnet uns überall in Natur und Kunst, z. B. in der Anordnung der Sonnenblumenkerne, von Blütenblättern, in physikalischen Kristallen, der Bauweise griechischer Tempel oder der künstlerischen Definition der idealen Proportionen menschlicher Körper. Übrigens: Die Zahl Phi gehört ebenso wie die Kreiszahl Pi oder die Wurzel aus 2 zu den sog. irrationalen und transzendenten Zahlen.

Wussten Sie, dass …

man Selbstorganisation auch im Kochtopf beobachten kann? Ein Beispiel dafür ist das säulenförmige Muster, das man beim Reiskochen im Topf sieht.

eine Engstelle auf der Autobahn ein Beispiel für Selbstorganisation ist? Wenn alle Autos nicht zu schnell sind und der »Reißverschluss« funktioniert, lässt sich ein Stau nahezu vermeiden. Er tritt erst auf, wenn einzelne Fahrer nicht »im Verkehr mitschwimmen«, sondern drängeln.

Selbstorganisation nicht nur in der Natur eine wesentliche Größe für die Entwicklung von Strukturen ist, sondern auch in Betriebswirtschaftslehre, Psychologie oder Informatik?

die Fibonacci-Zahlen mit dem Goldenen Schnitt zusammenhängen – einer Regel für harmonische Proportionen in Kunst und Natur? Dividiert man zwei aufeinanderfolgende Zahlen, so entspricht der Quotient schon nach wenigen Zahlen fast genau dem Zahlenwert des Goldenen Schnitts.

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