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Phrasen-Bingo: Warum am Wahlabend so viele Floskeln fallen
Während die ganze Welt über die US-Wahlen im November und die Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris redet, könnte man fast vergessen, dass auch hier in Deutschland bald wichtige Wahlen anstehen. Denn in Sachsen und Thüringen werden am 1. September neue Landesparlamente gewählt, Brandenburg folgt am 22. September 2024. Nachdem die rund sieben Millionen Wahlberechtigten für ihre favorisierte Partei abgestimmt haben, steht der Wahlabend an. Dort erfahren Politiker wie Wähler die offiziellen Ergebnisse. Außerdem haben Politiker die Chance, ihre Erfolge oder Misserfolge zu kommentieren.
Bei den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wird es zudem besonders viel zu besprechen geben. Denn es ist die erste größere Wahl, bei der die AfD die stärkste Partei werden könnte – bei aktuellen Hochrechnungen liegt die rechtspopulistische Partei mit knapp 30 Prozent der Wählerstimmen vorne, die CDU folgt erst mit fast sieben Prozent der Stimmen weniger. Es ist zudem die erste größere Wahl, bei der die neue Partei der ehemaligen Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht, das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ kurz BSW, antritt.
Die Phrasendreschmaschine am Wahlabend
Wird die AfD in den neuen Bundesländern regieren, wie schlägt sich die BSW und wie reagieren CDU, SPD und Grüne auf die Ergebnisse? All diese Entwicklungen liefern den Stoff für ausführliche Diskussionen. Doch am Wahlabend kann man nur mit wenig aussagekräftiger Berichterstattung rechnen. Denn laut dem Kommunikationswissenschaftler Falk Tennert greifen Politiker zu diesem Zeitpunkt häufig noch eher zu Floskeln, wie „Wir müssen erstmal in die Analyse gehen“, als dass sie tiefgreifende Erklärungsansätze für die Ergebnisse bieten.
„Politische Kommunikation ist hochgradig ritualisiert und schablonisiert. Das zeigt sich auch am Wahlabend. Wenn um 18 Uhr die Wahllokale schließen und die ersten Prognosen und Hochrechnungen eintreffen – das ist eine Phase von hoher Unsicherheit“, erklärt Tennert. Und genau diese initiale Unsicherheit ist der auch ein Grund, dass Politiker und politische Berichterstatter die „Phrasendreschmaschine“ in Gang setzen.
Typische Formulierungen sind strategisch
Politiker nutzen diese Ausweichstrategie fast unabhängig davon, ob die Wahlergebnisse für die einzelnen Parteien berauschend oder enttäuschend sind. „Das sind die üblichen Kommunikationsmuster, um auch die journalistischen Regeln zu bedienen: Es gibt eine Frage, man muss darauf reagieren“, erklärt Tennert. „Das ist strategisch.“ Denn wenn die Politiker auf Phrasen zurückgreifen, müssen sie sich bei den Fragen der Journalisten nicht festlegen.
Besonders, wenn Journalisten nach einer Einordnung der Ergebnisse fragen, scheuen Politiker häufig eine konkrete Antwort. Der Grund: Eine gute Einschätzung ist so früh am Wahlabend nicht ganz einfach, schließlich ist dieser Abend auch das Ende des monatelangen Wahlkampfs. Die Politiker haben zu diesem Zeitpunkt häufig selbst erst erfahren, ob die lange geplante Strategie aufgegangen ist oder nicht. Das müssen sie dann erst mal verdauen.
Floskeln aus Zeitnot
Zudem setzen sich viele Politiker erst im Nachgang des Wahlabends tiefgreifend mit den Wahlergebnissen auseinander. Denn für eine kritische Analyse der Erfolge und Misserfolge der Partei braucht es eben doch Zeit. Vor allem, wenn die Ergebnisse überraschend waren. Im stillen Kämmerlein ist es zudem auch häufig einfacher, die Fehler in der eigenen Wahlstrategie zu suchen, als bei Anwesenheit von kritischen Pressevertretern.
Die Interviews selbst sind zudem häufig einfach zu kurz für ausführliche Antworten. „Für eine tiefe Analyse ist dann in der Wahlberichterstattung gar keine Zeit. Wir haben das in unserer Forschung gemessen – die ersten Interviews und Statements nach den Hochrechnungen sind zwischen 15 und 40 Sekunden lang“, erklärt Tennert. „Da kann ich mich bei den Wählern und der Partei bedanken, noch den Satz mit der Analyse sagen, dann ist die Zeit vorbei.“
Gefährliche Formulierung: Erklärung fürs Volk
Laut dem Forscher gibt es zudem gewisse ungeschriebene Regeln, an die sich die meisten Politiker in der Kommunikation in und auch nach der Wahlnacht halten. Zum einen sind Schuldzuweisungen ein No-Go. „Das wäre ein Verriss an der eigenen Strategie und vielleicht am Spitzenkandidaten oder der -kandidatin“, erklärt Tennert. Auch, den politischen Gegner zu beschämen, gilt als unsittlich.
Vor allem verbitten sich allerdings Schuldzuweisungen in Richtung des Wählers. Politische Akteure geben häufig dennoch Sätze wie „Das müssen wir den Wählerinnen und Wählern (noch) besser erklären“ von sich. „Doch dieser Satz ist gefährlich“, so Tennert. Denn laut dem Kommunikationswissenschaftler kann ein solcher Stil schnell belehrend und überheblich wirken.
„Zum anderen zeugt die „noch besser“-Formel von der Beharrlichkeit des politischen Personals, die eigenen Positionen unkritisch beizubehalten und dadurch keine anderen politischen Lösungen zu offerieren“, erklärt Tennert. „Diejenigen, die sich solcher Formulierungsmuster zur Erklärung von Wahlergebnissen bedienen, entledigen sich ihrer eigenen Denkleistung.“
Was Wahlen und Fußballbeispiele gemeinsam haben
Doch wenn all diese Abläufe so vorhersehbar sind, warum dann eigentlich das ganze Brimborium rund um den Wahlabend? Können sich Politiker nicht einfach zurückziehen, gar nichts sagen und am Ende ihrer Sondierungsgespräche den Wählern verkünden, welche Koalitionen mit welchen besetzten Positionen sich gebildet haben?
Laut Tennert ist diese Schlussfolgerung auch nicht richtig. „Eine Wahl ist ein soziales Ereignis und das will interpretiert werden. Es ist wie beim Fußball. Wenn es vier zu eins für Spanien steht, will ich nicht nur wissen, dass Spanien führt, sondern auch warum“, so der Kommunikationswissenschaftler. Die Ergebnisse müssen also eingeordnet werden – und wenn nicht von den Politikern, dann eben von Journalisten oder anderen Akteuren.