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Rentenalter: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Die Lebenserwartung der Menschen steigt und steigt. Was für den einzelnen erfreulich ist, bringt die Rentenkassen heute immer mehr in Schwierigkeiten. Experten und auch manche Politiker fordern daher, das Rentenalter weiter anzuheben. Doch die reale Lebensarbeitszeit ist nur zum Teil vom staatlich festgesetzten Eintritt in den Ruhestand beeinflusst.
Auf dem Papier sind es aktuell 65 Jahre und sieben Monate: So alt muss ein Arbeitnehmer in Deutschland durchschnittlich sein, wenn er ohne Abschläge in Rente gehen will. Aber wie lange arbeiten wir im Schnitt wirklich? Statistische Erhebungen zeigen, dass der Ruhestand für viele Deutsche schon deutlich früher beginnt: Im Schnitt gehen die meisten schon vor dem 62. Geburtstag in Rente und damit mehr als drei Jahre früher als es der Gesetzgeber vorsieht. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit beim Renteneintritt klafft demnach eine deutliche Lücke, nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in den meisten anderen Industrienationen.
Doch für die Politik ist es von wesentlicher Bedeutung zu wissen, wieviel Zeit ihres Lebens die Bürger tatsächlich in Arbeit sind. Denn davon hängen die Einnahmen des Staates und der Sozialkassen ab – und das wiederum beeinflusst, welche Entscheidungen über künftige Rentenregelungen getroffen werden. Am Max-Planck-Institut für demografische Forschung arbeiten Wissenschaftler um Mikko Myrskylä daran, verlässliche Daten über die Lebensarbeitszeit zu gewinnen. Sie haben in verschiedenen Ländern untersucht, wann Arbeitnehmer in Rente gehen, aus welchen Gründen sie früher als vorgesehen aus dem Beruf ausscheiden und welche längerfristigen Entwicklungen sich abzeichnen.
Bildung ist ein wichtiger Faktor
Dabei zeigte sich: Je höher ihr Bildungsabschluss ist, desto länger arbeiten Menschen im Schnitt. So hat ein 50-Jähriger mit Hochschulabschluss in der Regel noch mehr Arbeitsjahre vor sich als ein gleichaltriger mit Lehre oder ungelernten Arbeiten. Einer der Gründe dafür: Die besser Gebildeten haben mehr Zeit mit Lernen verbracht, was ihr Berufsleben verkürzt. Sie benötigen daher später länger, um die Rentenbedingungen zu erfüllen.
Gleichzeitig aber sind besser Gebildete auch länger arbeitsfähig: Weil Akademiker meist körperlich wenig belastende Jobs haben, müssen sie weniger oft aus gesundheitlichen Gründen aufhören zu arbeiten. Zudem wollen viele auch gerne länger arbeiten, weil ihnen ihr Beruf Freude macht und sie weiterhin die geistige Herausforderung erfahren wollen.
Anders ist dies bei Berufen, wie sie für weniger Gebildete typisch sind, darunter Handwerker, Bauarbeiter oder Pflegekräfte. Viele dieser Berufe sind körperlich anstrengend und beinhalten einseitige Belastungen. Wer in diesen Bereichen arbeitet, entwickelt daher häufig schon im mittleren Alter gesundheitliche Probleme. Das führt oft dazu, dass Berufstätige dann früher aufhören wollen und müssen.
Krisen verkürzen Arbeitszeiten…
Wieviel Lebenszeit ein Mensch tatsächlich in Arbeit verbringt, hängt aber auch ganz wesentlich von der wirtschaftlichen Lage ab, wie die Forscher erklären. Gibt es beispielsweise eine Rezession und der Wirtschaft geht es schlecht, dann wirkt sich dies meist auch auf die Arbeitsplätze aus: Unternehmen müssen schließen oder kürzer treten und es kommt dadurch häufiger zu Entlassungen und Versuchen, den Arbeitskräfte-Überhang Überhang durch Altersteilzeit oder Frühberentungen abzubauen.
In Spanien beispielsweise hatte die Finanzkrise ab 2008 einen sehr deutlichen Effekt auf die sogenannte Arbeitslebenserwartung, wie die Forscher feststellten. Durch die Wirtschaftskreise schrumpfte die Zahl der Jahre im Beruf bei Männern von 38 Jahren auf 26 und bei Frauen von 33 Jahren auf 26 Jahre. Am wenigsten betroffen waren Hochqualifizierte und Frauen, vor allem ältere. Das führen die Forscher darauf zurück, dass in Spanien besonders der Bausektor zum Erliegen kam, in dem deutlich weniger Frauen als Männer arbeiten. Ähnliche Entwicklungen fanden die Forscher für Italien, das ebenfalls stark von der Finanzkrise getroffen wurde.
…aber nicht immer und bei allen
Doch dieses Muster gilt nicht immer, wie das Beispiel der USA zeigt. Dort waren es nach der Finanzkrise von 2008 überraschenderweise vor allem Akademiker, die früher aufhörten zu arbeiten. Die Forscher erklären den Effekt dadurch, dass ältere Akademiker, die wegen der Rezession ihre Arbeit verloren, früher in Rente gingen – im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen konnten sie sich das leisten. Anders war dies bei der meist ärmeren Bevölkerungsgruppe der Hispanics: Bei ihnen verlängerte sich die Lebensarbeitszeit nach der Finanzkrise vor allem bei Frauen um die 50. Die Ursache dafür sehen die Wissenschaftler im sogenannten "added worker effect". Danach führte die Krise in ärmeren Bevölkerungsschichten dazu, dass viele Frauen eine Arbeit aufnahmen, um Arbeitslosigkeit oder gesunkene Löhne ihrer Männer auszugleichen.