Die Welt im Zeichen des Imperialismus1872–1913
Das Zeitalter des Imperialismus
umfasst den Zeitraum des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten
Weltkriegs 1914. Der Imperialismus setzte um die Mitte der 70er Jahre in Großbritannien
ein und erfasste in den folgenden Jahrzehnten wie in einem Rausch die Großmächte
der Welt. Neben den traditionellen Kolonialmächten Großbritannien,
Frankreich und Russland beteiligten sich neue, aufstrebende Mächte –
USA, das Deutsche Reich, Belgien, Italien, Japan – am Wettlauf um die
Aufteilung der Welt.
Vom Kolonialismus zum Imperialismus
Als eine konkrete Utopie stellte sich
den Zeitgenossen der Jahrhundertwende der Imperialismus dar, eine Utopie,
in der sich das Bestreben der Nationalstaaten zur Großmacht mit Weltgeltung
ausdrückte. Imperialistische Politik wurde verstanden als die Sicherung
von Rohstoff- und Absatzmärkten. In diesem Sinn war es ein einseitiges
Geschäft der Ausbeutung durch die industrialisierten Großmächte.
Dennoch stellten die Kolonien für die meisten imperialen Mächte
in Wirklichkeit defizitäre Prestigeobjekte dar, von denen höchstens
einzelne Geschäftsleute wirklich profitierten. Tatsächlich war es
besonders nationales Prestigedenken, das als „Hurra-Patriotismus“
zu einem übersteigerten Nationalismus führte, der nicht selten in
chauvinistischen Hetztiraden endete. Die Idee des Imperialismus lebte aber
auch von einem missionarischen Sendungsbewusstsein und Überlegenheitsgefühl
der weißen Rasse und ihrer Zivilisation („Die Bürde des weißen
Mannes“). Die in dieser Zeit populäre Philosophie des Sozialdarwinismus,
der Lehre vom Kampf ums Überleben und der natürlichen Auslese auch
in der menschlichen Gesellschaft, führte zur wachsenden Brutalisierung
der Politik. Sie bot eine willkommene Rechtfertigung für jedwede Eroberungsaktivitäten.
Das britische Empire
Großbritanniens Expansionspolitik
nahm unter Premierminister Benjamin
Disraeli (1868/74–1880) systematische und umfassende
Formen an. Den Briten ging es beim Aufbau ihres Kolonialreiches, in dem 1913,
am Vorabend des Ersten Weltkrieges, 400 Millionen Menschen lebten, vor allem
um die Sicherung des Seewegs nach Indien, der wichtigsten und wertvollsten
Kolonie. Diesem Ziel diente etwa die Besetzung Ägyptens 1882. Mit dem
Kap-Kairo-Plan verfolgte London die Absicht, ein geschlossenes Kolonialgebiet
in Afrika zu beherrschen. Machtpolitische Grundlage des Empire bildete die
Flotte. Man war in England der Überzeugung, die „Pax Britannica“
müsse für die beherrschten Völker eine allgemeine, segensreiche
Wohlfahrt bringen. Führender Imperialist und Wegbereiter des Commonwealth-Gedankens
war Kolonialminister Joseph Chamberlain
.
Das französische Kolonialreich
Frankreichs Imperialismus konzentrierte
sich auf Schwarzafrika und Indochina. Eingeleitet wurde die imperiale Politik
Frankreichs in den 80er Jahren von Ministerpräsident Jules Ferry. Den Ausgangspunkt bildete
der bereits vorhandene französische Kolonialbesitz in Nordafrika (Algerien)
und Cochinchina (Saigon). 1910 verfügte Frankreich über ein geschlossen
zusammenhängendes Gebiet in West- und Zentralafrika. Auf dem Weg dahin
kam es ebenso zu Konflikten mit Großbritannien wie nach Errichtung der
Indochinesischen Union 1887, da der Kolonialrivale um Indien fürchtete.
Die Differenzen konnten aber mit der „Entente cordiale“ 1904
beigelegt werden. Stattdessen verschärften sich die Auseinandersetzungen
mit dem Weltmachtstreben des deutschen Kaiserreichs (Marokko-Krisen 1906 und
1911).
Deutschlands Wettlauf um Kolonien
Deutschlands „Platz an der Sonne“
begann erstmals 1884/85 Gestalt anzunehmen, als Kanzler Otto von Bismarck, eigentlich dem Kolonialbesitz
gegenüber skeptisch, u. a. Südwestafrika als Schutzgebiet des
Reichs reklamierte. Mit dem „persönlichen Regiment“ Kaiser Wilhelms II. trat
das Deutsche Reich in die imperiale Politik ein. Der Satz von der „zu
spät gekommenen Nation“ machte die Runde. Erst seit 13 Jahren
eine geeinte Nation, glaubte Deutschland etwas zu versäumen, wenn es
sich nicht rechtzeitig am Wettlauf um die Aufteilung der Welt beteilige. Die
tatsächliche Bedeutung der kolonialen Erwerbungen, vor allem in Afrika,
standen allerdings in keinem Verhältnis zum proklamierten „Griff
nach der Weltmacht“. Die imperialistischen Agitationsverbände
Alldeutscher Verband und der Flottenverein nährten einen übersteigerten
Nationalismus und trugen zur fortschreitenden Isolierung des als überheblich
und ignorant geltenden Reiches bei.
USA: Aufstieg zur Großmacht
Der Sieg im Spanisch-Amerikanischen
Krieg von 1898 machte aus der bisherigen Kontinentalmacht USA eine imperiale
Großmacht mit verstreutem Inselbesitz in der Karibik und im Pazifik
(u. a. Kuba, Puerto Rico, Philippinen). Aber auch Mittelamerika als „Hinterhof“
der USA und der Ferne Osten wurden zu zentralen Schauplätzen imperialer
Politik. Unter Präsident Theodore
Roosevelt stiegen die USA zur zweitstärksten Seemacht
der Welt auf. Der Bau des Panamakanals (1914 eröffnet) ermöglichte
die Kontrolle des Kolonialbesitzes. Während im Übrigen die „Dollardiplomatie“,
also die indirekte Einflussnahme auf finanziellem Weg, in Mittelamerika erfolgreich
war, führte sie im Fernen Osten („Politik der Offenen Tür“
in China) zum Interessenkonflikt mit Japan.
Japan und Russland
Nach der Öffnung Japans für
die westliche Welt Mitte des 19. Jahrhunderts und besonders nach den Meiji-Reformen
Ende der 1860er Jahre entwickelte sich das Inselreich auf Grund seiner Expansionspolitik
zu einer führenden Großmacht in Ostasien. In zwei siegreichen Kriegen
gegen China (1894/95) und Russland (1904/05) eroberte Japan Formosa, Korea,
die Mandschurei und errang großen Einfluss in China. Im Gegensatz zu
den anderen Weltmächten war Russlands Imperialismus kontinentaler Art.
Er richtete sich auf zwei Ziele: in Ostasien eisfreier Zugang zu den Weltmeeren
und im Vorderen Orient die Beherrschung der Dardanellen, der Meerengen, die
den Zugang zum Mittelmeer garantieren. Große Rüstungsanstrengungen
und der Bau der Transsibirischen Eisenbahn (1891–1904) sollten dieses
Ziel verwirklichen helfen. Im Vorderen Orient bereicherte sich der russische
Imperialismus auch auf Kosten des auseinander fallenden Osmanischen Reichs,
des „Kranken Mannes am Bosporus“.