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Was ist eine Minderheitsregierung?
Das Wahlergebnis vom 18. September lässt rechnerisch viele Regierungsmodelle für Deutschland zu. In den verschiedenen Planspielen wird immer wieder auch eine Minderheitsregierung genannt.
Ein Beitrag von unserem Kooperationspartner Financial Times Deutschland.
Minderheitsregierungen besitzen keine eigene Mehrheit im Parlament. Oft werden sie nur von einer einzelnen Partei beziehungsweise Fraktion im Parlament getragen. Zu jeder einzelnen Sachfrage muss sich die Regierung deshalb Mehrheiten suchen. Das erfordert einen hohen Verhandlungsaufwand vor einer Parlamentsentscheidung. Andererseits werden die Mitwirkungsrechte des Parlaments auf diesem Weg gestärkt, weil eine Minderheitsregierung stärker auf die Aufgaben der Exekutive fokussiert wird. Nach der klassischen Lehre der Gewaltenteilung liegt die eigentliche gesetzgebende Gewalt beim Parlament (Legislative), während die Gesetze ausführende Gewalt (Exekutive) bei der Regierung liegt. Minderheitsregierungen sind in Mitteleuropa relativ selten. Oft haftet ihnen das Stigma der Instabilität an. In Skandinavien allerdings sind Minderheitsregierungen ein akzeptiertes und oft genutztes Instrument, ohne dass damit die Stabilität der politischen Systeme in Frage gestellt wäre. In Dänemark und Schweden sind seit Jahrzehnten Minderheitsregierungen im Amt, so dass dieses Regierungsmodell dort mittlerweile zur Regel wurde.
Drei Minderheitsregierungen auf Bundesebene
Auf Bundesebene hat es in Deutschland bisher drei Minderheitsregierungen gegeben: 1963 unter Bundeskanzler Ludwig Erhard, 1972 unter Willy Brandt und zuletzt 1982 unter Helmut Schmidt. Diese Regierungen waren in der Regel nur wenige Woche im Amt und entstanden nach dem Rückzug eines Koalitionspartners. In allen drei Fällen überbrückten diese Minderheitsregierungen die Zeit bis zu einer Neuwahl des Bundestages. 1982 traten die FDP-Minister aus der sozialliberalen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt zurück. Schmidt ersetzte die FDP-Minister durch SPD-Abgeordnete und führte so gegenüber dem Drei-Parteien-Parlament (SPD, CDU/CSU, FDP) eine Minderheitsregierung an. Wenige Wochen später kam es zum konstruktiven Misstrauensvotum, bei dem CDU/CSU und FDP Helmut Kohl zum Kanzler wählten. Auf Landesebene gibt es in Deutschland Beispiele von Minderheitsregierungen. In Berlin kam es 1981 zur Bildung eines Minderheitssenats unter Richard von Weizsäcker. Die FDP tolerierte damals die von der CDU gebildete Landesregierung und beteiligte sich 1982 dann offiziell an der Regierung. 2001 stürzten SPD, Grüne und PDS den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, der bis dahin einer großen Koalition vorstand, mit einem konstruktiven Misstrauensvotum. In der Folge wurde der SPD-Politiker Klaus Wowereit zu Diepgens Nachfolger gewählt, die von ihm gebildete Regierung wurde von Grünen und PDS geduldet, ohne dass diese beiden Parteien an ihr beteiligt waren.
Sonderfall "Magdeburger Modell"
Ein Sonderfall ist das "Magdeburger Modell": In Sachsen-Anhalt erreichte bei der Landtagswahl 1994 weder die CDU-FDP-Regierung noch das Oppositionslager aus SPD und Grünen eine stabile Mehrheit. Reinhard Höppner (SPD) bildete daraufhin eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen, die von der PDS geduldet wurde. Bei der Landtagswahl 1998 scheiterten die Grünen dann an der Fünf-Prozent-Hürde. Höppner setzte aber weiterhin auf die Duldung durch die PDS und stand einer SPD-Minderheitsregierung bis zum Jahr 2002 vor. Weitere Minderheitsregierungen gab es auch in Schleswig-Holstein 1987/88 nach dem Tod von Uwe Barschel und in Hamburg 2003/2004, nachdem die Koalition aus CDU , FDP und Schillpartei geplatzt war.
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