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Bei Mausklick Revolution – Proteste auf Twitter, Facebook & Co.
Ein junger Mann wird von zwei Männern in einem Internetcafé vom Computer weggezerrt und vor den Augen von Cafébesuchern und Passanten auf offener Straße brutal zu Tode getreten und geschlagen. Was die beiden Männer – Geheimpolizisten in zivil – nicht vorausahnen: Der grausame Mord, der sich am 6. Juni 2010 in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria abspielt, wird ein gutes halbes Jahr später entscheidend zum Sturz von Diktator Husni Mubarak beitragen. Denn ein Foto, das den entstellten Leichnam des 28jährigen Bloggers Khaled Said zeigt, landet im Internet, die Entrüstung über den Mord sorgt landesweit für Proteste. Vier Tage nach dem Vorfall gründet sich die Facebook-Gruppe „Kolena Khaled Said“ ("Wir sind alle Khaled Said"), berichtet über den Fall, bietet den schockierten Ägyptern eine Plattform und ruft im Januar 2011 Zehntausende Abonnenten der Gruppe zum Demonstrieren auf. Khaled Said selbst wird zu einer Symbolfigur der Revolution.
Wie sehr Netzaktivisten wie diese Facebook-Gruppe Präsident Mubarak in Bedrängnis bringen, zeigt sich am 27. Januar – zwei Tage nach Beginn der Massenkundgebungen am Tahrir-Platz lässt Mubarak Internet und Mobilfunknetze abschalten. So will die Regierung verhindern, dass sich die Demonstranten organisieren und austauschen.
Den Diktator austricksen
Die drastische Maßnahme nützt dem Präsidenten wenig. Findige Köpfe unter den Protestierenden kramen ihre alten 90er-Jahre-Modems wieder hervor und wählen sich mit der Unterstützung von Aktivisten im Ausland per Festnetz über ausländische Telefonnummern ins Netz, andere rufen, ebenfalls per Festnetz, bei Sympathisanten im Ausland an und geben aktuelle Meldungen für Twitter durch. Zehntausende im ganzen Land hören nicht mehr auf zu protestieren, bis der ungeliebte Staatspräsident zwei Wochen später – nach fast 30 Jahren an der Macht – aus dem Amt verjagt ist.
Die Angst der Regierungen vor dem Internet
Ägypten ist nicht das einzige Land, das die Macht des Internets fürchten gelernt hat. Auch Syrien, Libyen oder Kasachstan haben schon die Leitungen lahmgelegt, als es brenzlig wurde. Iran drosselt bei unklarer politischer Lage die Verbindungsgeschwindigkeit, so dass niemand mehr komfortabel surfen oder gar Bilder und Videos hochladen kann. Und vielerorts, etwa in China, sind Dienste wie Facebook oder Twitter gar nicht erst erreichbar. Noch radikaler geht Nordkorea vor: Das ohnehin abgeschottete Land gewährt nur handverlesenen Regierungsmitgliedern Zugang zum Internet, und selbst das nationale Intranet ist nur ausgewählten Nutzern vorbehalten. Diktaturen, die den Internetzugang nicht vollständig begrenzen, nutzen das Netz zur Spionage, um Regimekritiker aufzuspüren und deren Aktivitäten zu verfolgen.
Einer der wenigen Politiker, die ihre Wut auf die sozialen Netzwerke öffentlich erklärt haben, ist der türkische Ministerpräsident Erdogan: „Es gibt jetzt eine neue Bedrohung namens Twitter“, zitierte ihn im Juni 2013 anlässlich der Demonstrationen in der Türkei der britische „Guardian“. "Die besten Beispiele für Lügen können dort gefunden werden. Für mich sind die sozialen Medien die schlimmste Bedrohung der Gesellschaft."
Die Medienzensur umgehen
Wer allerdings glaubt, dass sich die Macht der sozialen Netzwerke nur in Diktaturen zeigt, irrt – so sieht es jedenfalls Oliver Hinkelbein. Wenn es seine Zeit zulässt, arbeitet der Bremer Medienethnologe in der Facebook-Gruppe „Halte durch, Türkei“ mit. „Ich war zufällig Ende Mai in Istanbul und bin mitten in die Proteste am Gezi-Park hineingeraten. Dann habe ich ein paar Mal etwas in der Gruppe gepostet, daraufhin hat mich der Initiator angeschrieben und gefragt, ob ich mitarbeiten möchte“, erinnert sich Hinkelbein. „Wir wollten mit der Gruppe vor allem Öffentlichkeit erzeugen. Die deutschen Medien hatten die Proteste zunächst nur als Randthema behandelt – obwohl in der Türkei Hundertausende auf der Straße waren“.
Ob die Presse in Deutschland so frei sei, wie oft behauptet werde, bezweifelt der Ethnologe daher – zumal andere Themen mit Türkeibezug, etwa wenn es um Beschneidung oder die Teilnahme am Schwimmunterricht gehe, sofort breit dargestellt würden. „Die Zensur funktioniert hier nur etwas anders. Immer mehr Medien sind in der Hand weniger Unternehmen, da ist es immer leichter zu entscheiden, was berichtet wird und was nicht“, vermutet er. Die Organisation Reporter ohne Grenzen bestätigt die Einschätzung: In ihrer jährlich erscheinenden „Rangliste der Pressefreiheit“ rangiert Deutschland nur im europäischen Mittelfeld. Als einen der Gründe nennt die Organisation die abnehmende Vielfalt der Presse.
Engagement in Klickgeschwindigkeit
An den sozialen Netzwerken schätzt Hinkelbein allerdings nicht nur die größere Meinungsvielfalt. „Man kann sich wesentlich schneller einbringen“, ist er überzeugt. "In einer klassischen politischen Offline-Organisation, zum Beispiel in einer Partei, muss man sich erst hocharbeiten. Und man muss überhaupt erst einmal herausfinden, wo sie sich trifft, man muss hingehen, vielleicht sogar noch Mitglied werden.“ Dagegen seien soziale Netzwerke viel niedrigschwelliger.
Eins aber sollten politisch bewegte Netzwerkler allerdings schon mitbringen, nämlich eine gewisse Medienkompetenz. Hinkelbein rät dazu, für wichtige Meldungen stets eine zweite Quelle zu suchen. Immerhin sorge der Dialog, der in sozialen Netzwerken entstehe, für Orientierung. „Bei „‚Halte durch, Türkei’ prüft ein Redaktionsteam all unsere Beiträge genau. Trotzdem ist einmal ein Bild durchgerutscht, das nicht zu einer Meldung passte. Das ist den Lesern schnell aufgefallen, und die Redaktion hat dann den Fehler eingestanden.“ Er sehe das als gutes Zeichen, wenn solche Fehler nicht verschleiert würden. Auch dass seine Gruppe in Leserkommentaren das gesamte Meinungsspektrum zuließe, sei ihm wichtig, erklärt Hinkelbein. „Nur Diffamierungen und schlimme Beleidigungen sortieren wir seit einiger Zeit aus. Aber wenn jemand schreibt, dass er Erdogan gut findet, dann bleibt das stehen.“
Was macht Netzproteste erfolgreich?
Auch der Berliner Netzaktivist Stephan Urbach sieht in sozialen Netzwerke und Blogs viel Potenzial für Protestbewegungen. „Proteste hat es schon immer gegeben, aber nun sind sie viel sichtbarer geworden“, erklärt er. Neben Ägypten und Syrien verweist Urbach auf die Occupy Wall Street-Proteste, die im Oktober 2011 von New York aus Demonstranten auf der ganzen Welt auf die Straße lockte. „Das war das erste Mal, dass die Mittelschicht öffentlich protestiert hat, und nicht Intellektuelle oder Jugendliche“, meint Urbach – ein Zeichen, dass sich Proteste durch das Internet verändert hätten.
Warum aber sind einige Protestkampagnen in sozialen Netzwerken erfolgreich, während andere ungeklickt vor sich hin dümpeln? „Da fehlen die Narrative, die Geschichten“, vermutet Urbach. „Auch Protest will ja verkauft werden, er muss die User emotional ansprechen“. In Ägypten 2011 gab es ein klares Feindbild – Mubarak –, und mit den Geschichten der jungen Leute habe er sich identifizieren können. So sehr, dass er mit der Netzaktivistengruppe Telecomix für die Protestierenden eine Modem-Interneteinwahl über Deutschland einrichtete, als Mubarak das ägyptische Internet abschaltete.
Außerdem misst Urbach dem Dialog eine entscheidende Bedeutung bei: „Wenn man auf Facebook immer nur postet, aber nie auf Kommentare reagiert, dann will irgendwann niemand mehr hören, was man zu sagen hat“, schätzt er. „Ich muss heute nicht mehr auf Veranstaltungen gehen, um mit den Menschen zu reden, sondern kann das online machen. Aber reden muss man noch immer, daran hat sich nichts geändert.“
Ganz ohne das Haus zu verlassen, ist eine Revolution allerdings auch heute noch nicht zu bewerkstelligen. Am 7. Februar 2011, nach zehntätiger Inhaftierung in Ägypten, räumte der Ägypter Wael Ghonim öffentlich ein, der Initiator der Facebook-Gruppe „Kolena Khaled Said“ zu sein. Ein Anführer der Proteste habe er allerdings nie sein wollen, betonte der Google-Mitarbeiter mit Wohnsitz in Dubai im Februar 2011 gegenüber dem US-Magazin Newsweek. „Ich habe das leichteste getan, was man tun kann, nämlich schreiben“. Die wahren Helden seien die Menschen auf der Straße.