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Psychosen – wenn sich Lebenskrisen verselbstständigen

Am Anfang steht meist eine Lebenskrise. Dann plötzlich beginnen die Gedanken zu rasen, die Umwelt wirkt immer bedrohlicher, die Situation ausweglos – die Geschichten vieler Psychose-Erkrankter beginnen auf diese Weise. Wie sie enden, ist hingegen höchst unterschiedlich. Der vielleicht wichtigste Faktor für die Heilung: Eine Behandlung, die den Patienten einbezieht.
von wissen.de-Autorin Alexandra Mankarios

„Ich war wie in einem Gedankenstrudel gefangen, der sich immer schneller drehte. Jeden Tag schrieb ich endlose, immer detailliertere Listen, was ich an dem Tag zu erledigen hatte. Gleichzeitig schaffte ich gar nichts“, erinnert sich Björn Petersen (Name geändert). Wenn der heute 41-Jährige an seinen ersten psychotischen Schub zurückdenkt, ist ihm selbst klar, wie sehr er damals „neben der Spur“ war. 17 Jahre ist das inzwischen her. Sein Leben lief gerade nicht so rund, das Studium hakte, die Liebe auch, dann erfuhr er noch, dass sein Vermieter, bei dem er zur Untermiete wohnte, die Wohnung kündigen wollte. Das setzte dann die Psychose in Gang.

„Damals kam mir mein Verhalten nicht ‚seltsam’ vor“, erzählt Petersen. „Ich dachte nur, dass ich einen Haufen ungelöster Probleme hatte, und wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Auch Gespräche halfen nicht, ich redete stundenlang, unterbrach mich ständig selbst und kam überhaupt nicht mehr auf den Punkt. Das war wie ein Strom ohne Anfang und Ende.“

 

Psychose – außen und innen verschwimmen

Von der Krise in die Psychose
Fotolia.com/ArTo
Björn Petersen gehört zu etwa einem Prozent der Menschen weltweit, die mindestens einmal im Leben eine so genannte schizophrene Psychose durchleben – einen „Zustand besonderer Dünnhäutigkeit“, wie Thomas Bock, Leiter einer Ambulanz für Psychosen und bipolare Störungen am Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf die seelische Erkrankung beschreibt: „Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung gehen verloren. Dinge, die die Patienten innerlich beschäftigen, treten nach außen – viele hören Stimmen oder sehen Bilder. Das Denken wird sprunghaft.“

Treffen kann eine Psychose jeden. Ein leicht erhöhtes Risiko haben Menschen mit Psychosefällen in der Familie. Trotzdem wehrt sich Thomas Bock gegen die noch immer in vielen psychiatrischen Kliniken verbreitete Haltung, dass Psychosen vorrangig mit der Genetik oder dem Stoffwechsel zusammenhingen. Denn diese Haltung habe zur Folge, dass die Patienten vor allem medikamentös versorgt, aber nicht ausreichend begleitet würden. Dabei stehen die Chancen auf Heilung gut: Ein Drittel der Patienten, so Bock, werde nur einmal und danach nie wieder psychotisch, ein weiteres Drittel könne in Lebenskrisen wieder psychotisch werden, dem aber auch vorbeugen. Das dritte Drittel sei über längere Zeit beeinträchtigt – aber auch diese Patienten könnten lernen, mit der Krankheit umzugehen.

 

Medikamente allein helfen nicht

Auch Björn Petersen geriet in die Mühlen der traditionellen Psychiatrie: Als seine Situation immer auswegloser erschien, suchte er bei seinen Eltern Schutz. Zwei Tage später sah er zum ersten Mal in seinem Leben eine psychiatrische Klinik von innen, er erhielt die Diagnose „Psychose“. Und ein Medikament: Haloperidol. Der klassische antipsychotische Wirkstoff soll die Erregungszustände dämpfen, hat aber hohe Nebenwirkungen. Besonders den Kontrollverlust über die Muskeln erleben viele Patienten als unangenehm. Als Petersen nach drei Wochen die Klinik wieder verließ, ging es ihm kaum besser. Er schlief schlecht, die Gedanken rotierten noch immer. Trotzdem beschloss er nach dieser Erfahrung, dass er sein Leben ohne Medikamente in den Griff bekommen möchte.

Die Entscheidung ist nicht ungewöhnlich. „Die Psychiatrie setzt zu sehr auf die Behandlung mit Medikamenten. Damit wird sie den Patienten nicht gerecht“, erklärt Thomas Bock. „Am Ende führt das oft dazu, dass die Patienten wegen der hohen Nebenwirkungen die Medikamente komplett absetzen.“ Der Psychologe plädiert stattdessen dafür, mit den Patienten gemeinsam eine „Gesamtstrategie“ zu entwickeln, wie sie mit der Krankheit umgehen können. „Das erste, was ein Psychosepatient braucht, ist ein Ansprechpartner, der ihm hilft, sich wieder zu orientieren“, erklärt Bock. „So kann der Betroffene klären, was mit ihm geschehen ist, was ihn so beunruhigt und dünnhäutig gemacht hat.“ Psychologische und soziale Hilfen, die Einbeziehung der Angehörigen – all diese Punkte gehörten zur Strategie. „Manche Patienten brauchen auch Medikamente, damit ihre Haut wieder dicker wird und sie besser filtern können, was auf sie einströmt. Aber das sollte nur eins von vielen Hilfsangeboten sein.“

 

Neue Behandlungsansätze in der Psychiatrie

Wenn der Arzt mit der Spritze kommt
mev, Augsburg/Christian Albert
Behandlungskonzepte, die diesem Ansatz folgen, finden sich in Deutschland an immer mehr Orten – das Stichwort lautet „Integrierte Versorgung“. Anstatt erst während einer Krise in der Klinik zu erscheinen, haben die Patienten feste medizinische und therapeutische Ansprechpartner, an die sie sich wenden können, ehe ihnen die Probleme über den Kopf wachsen. Gruppen- und Hilfsangebote sowie Behandlungen zu Hause gehören ebenso zum Programm wie die Einbeziehung der Angehörigen. Dafür erhalten die Krankenhäuser – so jedenfalls im so genannten „Hamburger Modell“ – eine Jahrespauschale pro Patient, anstatt einzelne Leistungen abzurechnen. „Wir werden nicht dafür ‚belohnt’, dass ein Patient lange bei uns ist, sondern dafür, dass wir ihn möglichst gut zu Hause zu betreuen“, erklärt Bock. Untersuchungen zeigen, dass der Ansatz aufgeht: In Kliniken, die an die integrierte Versorgung angeschlossen sind, sanken die Anlässe für gegen den Willen der Patienten durchgeführte Zwangsbehandlungen um 90 Prozent. Auch die Dosierungen der antipsychotischen Medikamente sanken – und damit die Stärke der Nebenwirkungen, die die Patienten sonst häufig dazu veranlasst, die Medikamente völlig abzusetzen.

Ein weiteres Angebot, das in Deutschland immer häufiger verfügbar ist, sind so genannte Peer-Beratungen: Die Ansprechpartner haben selbst Psychoseerfahrung und zudem eine umfassende Berater-Ausbildung absolviert. Sie kennen die gesamte Palette der Hilfsangebote und können einfühlsam mit dem Patienten Lösungswege entwickeln.

 

Individuelle Wege aus der Krankheit

Peer-Beratungen sind, ebenso wie die integrierte Versorgung, erst vor wenigen Jahren aufgekommen. Als Björn Petersen Mitte der 90er Jahre seine Diagnose erhielt und beschloss, ohne Medikamente auszukommen, war er auf sich allein gestellt. Er schlief schlecht, stand ständig unter Strom, kämpfte sich durch eine Berufsausbildung und einen weiteren psychotischen Schub. „Ich hatte ja schon ein paar Jahre Erfahrung mit der Krankheit und wusste, wie ich mich verhalten muss, damit niemandem etwas auffällt“, erzählt er. Im Job sprach er kaum – „sonst hätte jeder gemerkt, dass ich neben der Spur bin. Innen rotierte mein Gedankenkarussell, meine Gefühle waren eigentlich nur mit dem Wort Schmerz zu beschreiben.“

Dass es Petersen heute viel besser geht, dass er beruflich erfolgreich ist und sein Leben ohne die Unterstützung seiner Eltern bewältigt, verdankt er letztlich einem Zufall. Von einem Bekannten hörte er von neuen Medikamenten mit weniger Nebenwirkungen. Petersen wagte einen neuen Versuch – und hatte Glück, weil das Präparat sofort anschlug: „Nach Jahren ohne ausreichenden Schlaf schlief ich zum ersten Mal wieder eine ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie neugeboren, meine Gedanken hatten sich beruhigt.“ Mit der Hilfe des Medikaments konnte sich Petersen sammeln, ein Studium aufnehmen, den Mut zu einer Psychotherapie aufbringen.

Aktuell versucht er, die Dosierung langsam zu reduzieren, gern möchte er ohne Medikament leben. „Mal sehen, ob ich zum Beispiel die Angstgefühle abschütteln kann! Wenn das aber nicht geht, dann ist das auch in Ordnung“, resümiert Petersen. Er hat mit der Krankheit seinen Frieden gemacht. „Ich glaube, dass der Weg, der in die Psychose führt, individuell ist, und dass auch nur ein individueller Weg wieder hinausführt“, erzählt er. Medikamente und Psychotherapie seien wichtige Hilfen für ihn – aber auch Ansprechpartner, die ihm zugehört hätten, selbst wenn er langatmig wurde, die emotional Anteil genommen hätten, anstatt gleich Lösungen vorzuschlagen.

Petersens Bericht deckt sich mit den Erfahrungen Thomas Bocks. Und er zeigt, dass die Diagnose „Psychose“ im 21. Jahrhundert, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, nicht den Verzicht auf einen erfüllenden Beruf oder eine eigene Familie bedeuten muss. „Man kann eine gute Mutter, ein guter Vater sein, auch wenn man gelegentlich psychotisch ist“, betont Bock. „Theoretisch ist alles möglich! Eine Psychose kann sogar lehrreich sein – eine Chance, sich auf sich zu besinnen und das eigene Leben, die eigenen Einstellungen zu überprüfen. Aber diesen Prozess des Besinnens kann man nicht nur mit Medikamenten steuern.“

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