Betrachten wir also in diesem wunderbar umfassenden Zusammenhang
die Erde an jenem Morgen, den die christlich-abendländische
Welt als den 18. April 1906 bezeichnete. Hätte ein Geologe zu jener
Zeit auf den Planeten als Ganzes blicken und sehen können, was sich
damals dort abspielte, so wäre er bass erstaunt gewesen über den physikalischen
Kontext des Ereignisses, auch wenn das Ereignis selbst
aus solch großer Höhe alles andere als überwältigend gewirkt haben
mochte.
Als Blickfolie dürfte der Planet unvergesslich schön gewesen sein.
Hätte unser Geologe auf dem Mond stehen und mit einem ungeheuer
starken Teleskop die Oberfläche der blau-grün-weißen Kugel betrachten
können, die am tintenschwarzen Himmel hing, so hätte er (vorausgesetzt
die Wolkendecke war nicht zu dicht) in helles Sonnenlicht getaucht
einen Teil der Erde vor sich gesehen, der sich von dem, was
manche «Indien» nennen, bis zu dem erstreckte, was andere als «Rocky
Mountains» bezeichnen.
Er hätte leicht Arabien, Kleinasien, ganz Europa und Afrika erkennen
können, das tiefe Blau des Atlantischen Ozeans, die makellos
weiße Masse Grönlands im Norden und die blendend weiße Fläche der
Antarktis tief im Süden. Die korpulente Landmasse, die wir heute als
«Brasilien» bezeichnen, wäre hell erleuchtet gewesen; etwas weniger
strahlend dürften die von Städten gespickte Ostküste Nordamerikas
und Patagonien gewesen sein, deren Bewohner gerade erst an einem
Tag erwachten, den viele Erdenbürger als «Mittwoch» bezeichneten –
einem Tag, der Tausende Meilen entfernt im dunklen China und allen
weiter östlich gelegenen Orten in diesem Augenblick indes bereits zu
Ende ging.
Zu dem Zeitpunkt, der uns hier interessiert – ungefähr fünf Uhr früh
nach westamerikanischer Zeit –, hätte er sehen können, wie sich der so
genannte westliche Terminator, die Trennlinie zwischen beleuchtetem
und unbeleuchtetem Gebiet auf der Erdoberfläche, rasch auf den Pazifik
zubewegte. Die Erde rotierte in einer Geschwindigkeit von mehreren
hundert Kilometern pro Stunde in östliche Richtung und setzte
immer weitere Gebiete dem Licht des anbrechenden Tages aus.
In diesem Augenblick begann die Linie im Norden bei Melville
Island in der kanadischen Arktis, ging weiter über Banks Island und die
unbewohnte Eiswüste der Northwest Territories und des Yukon, durch
Saskatchewan und Alberta, dann durch den neu gegründeten Staat
Montana, die von Bisons und Cherokee-Indianern bevölkerten Staaten
Wyoming, Colorado und New Mexico, über den Rio Grande Richtung
Acapulco bis zu einem Punkt an der Küste, an dem sie schließlich von
der nordamerikanischen Landmasse wegglitt und nach und nach die
tintenschwarze Leere des Pazifischen Ozeans erleuchtete.
Östlich dieser Linie war alles in helles Tageslicht getaucht, westlich
davon in tiefes Dunkel. Auf der Linie selbst verlief über eine Breite von
einigen hundert Meilen ein ungewisser Halbschatten. Unten auf der
Erde erlebten die Frühaufsteher in den Städten, Dörfern und Farmen
von Vancouver Island im Norden bis hinunter nach Baja California
dieses unbestimmte Halblicht als Morgendämmerung des 18. April.
Es erfordert einige Phantasie, sich vorzustellen, dass jemand so fern
in Raum und Zeit über ein genügend großes Fernglas verfügte. Aber
angenommen, solch ein Instrument existierte, und angenommen, unser
Geologe auf dem Mond hätte seine Linse in jenem Augenblick genau
auf die Küste Nordkaliforniens gerichtet, die durch das Wandern des
Terminators zentimeterweise seinem Blick eröffnet wurde – was hätte
er da wohl gesehen?
Die Antwort ist zwangsläufig erschütternd für all jene, die glauben,
dass die Erde, ihre Bewohner und die Ereignisse, die sich auf ihr zutragen,
im kosmischen Sinn irgendeine Bedeutung haben. Aus dieser Distanz
hätte unser Geologe im Grunde gar nichts gesehen.
Dennoch ist an jenem Morgen wenige Minuten nach fünf Uhr früh
tatsächlich etwas geschehen. Der Planet zuckte kurz, nur ein paar Sekunden,
vielleicht nicht einmal eine Minute.
Hätte unser Beobachter die geographischen Verhältnisse gekannt
und das Glück gehabt, genau im richtigen Moment auf einen ganz bestimmten
Punkt im Norden Kaliforniens zu blicken, so hätte er vielleicht
etwas wahrgenommen, was wie eine winzige wellenförmige Bewegung
vom Meer zur Küste hin ausgesehen haben dürfte. Ferner hätte
er gesehen, wie sich diese Kräuselung langsam, aber stetig den Gestaden
näherte und sich mit einem winzigen Zittern fächerförmig über die
Küstenregion ausbreitete.
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