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Freiklettern – der Tanz im Fels

Richard Steiger

"Aber mehr als beim Manne noch gilt für dich, liebes Kletterweiblein, das Gebot: Nichts überstürzen! Die körperliche Beschaffenheit des Weibes ist im allgemeinen doch zarter als die des Mannes."

Aus einem schon etwas in die Jahre gekommenen Buch über das Klettern, aus einer Zeit, in der das Klettern noch einer Handvoll wagemutiger Individualisten vorbehalten war - "echten" Männern eben - stammt dieser gutgemeinte Hinweis. Ein paar Jahrzehnte später klettert die Amerikanerin Lynn Hill als erster Mensch den legendären 1000 Meter hohen Granitturm El Capitan im Yosemite Valley im freien Stil und beweist der Männerwelt vor allem eines: Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da ist der Gipfel noch lange nicht bezwungen.

Freiklettern ist mehr als ein großer Bizeps und ein bisschen Mut


Es ist die Harmonie, die Ästhetik der Bewegungen, die sich zu einem Tanz in der Vertikalen vereinen. Es ist die Einmaligkeit des Augenblicks, in dem alle Sinne auf den Mikrokosmos des nächsten Meters fokussiert sind. Es gilt, sich zu emanzipieren von festgefahrenen Denkweisen und das Neue, Ungewöhnliche zu suchen und zu wagen.

Dabei hält sich das eigentliche Wagnis in Grenzen, denn - entgegen falscher Vorstellungen - ist man beim Freiklettern gut gesichert. Frei von technischen Hilfsmitteln, also nur mittels des eigenen Körpers und der natürlichen Tritte und Griffe am Fels, gilt es eine Route zu bezwingen. Diese Ethik des Freikletterns, die bereits um die Jahrhundertwende im Elbsandsteingebirge - der Wiege des Freeclimbings - beheimatet war, wurde in den 50er und 60er Jahren vom technischen Klettern abgelöst. Der technische Fortschrittsglaube schien ungebrochen und der menschliche Körper zu limitiert in seiner Leistungsfähigkeit. Die Hippiegeneration und ihre Suche nach neuen Wertmaßstäben bewirkte aber glücklicherweise auch eine Neuorientierung in der Kletterwelt. Mit dem "Californian Way of Life" schwappte auch der neue bzw. alte Weg des freien Kletterns Anfang der 70er Jahre zurück nach Europa. Klettern wurde gesellschaftsfähig, Hunderte von Klettergärten entstanden und die Beliebtheit dieses unvergleichlichen Sports in freier Natur wächst ständig.

Und schon Goethe hat erkannt: "Aber das Steile, Jähe scheint der Jugend zuzusagen; dies zu unternehmen, zu erstürmen, zu erobern ist jungen Gliedern ein Genuß!"

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