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Literaturtourismus: Auf der Spur der Romanhelden
"Es hat mich schon immer interessiert, wie Leser mit Literatur umgehen, wie sie sich einen literarischen Text aneignen", erzählt Raphaela Knipp von der Universität Siegen. Kein Wunder, dass sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit untersucht hat, warum Menschen den Figuren ihrer Lieblingsbücher an die realen Schauplätze aus den Büchern folgen.
Von Buddenbrook bis Holmes
In den Straßen Dublins folgen die Literaturtouristen der Fährte von Leopold Bloom aus James Joyce` Klassiker „Ulysses“. In Lübeck ist das Buddenbrook-Haus eine beliebte Anlaufstelle für Literaturfans, das Zuhause der fiktiven Buddenbrook-Familie aus Thomas Manns gleichnamigem Roman. Und in London erleben Besucher noch einmal das wahre Sherlock Holmes-Feeling bei einem Spaziergang zur Baker Street 221b.
Dass es nicht unbedingt eine weite Anreise braucht, zeigt sich an den Lokalkrimis von Jaques Berndorf. Seine "Eifel-Reihe" ist mittlerweile zwar längt überregional populär, doch vor allem für Interessierte aus der näheren Umgebung bietet sich ein Abstecher zu den Ermittlungsorten von Protagonist Siggi Baumeister an, weiß auch Knipp: "Touren wie die Krimi-Wanderungen in der Eifel sind extrem beliebt. Insgesamt ist Literaturtourismus ein Trend, der in den nächsten Jahren noch zunehmen wird."
Hohe Erwartungen - hohes Enttäuschungspotential
Doch was passiert, wenn Literaturreisende Roman-Schauplätze besuchen? Wie reagieren sie? "Das hängt stark davon ab, wie die jeweiligen Orte in der Literatur geschildert werden – und wie es dort tatsächlich aussieht", erklärt Knipp. Bei Joyce werden beispielsweise zahlreiche Gebäude oder Straßen zwar konkret benannt, aber kaum näher beschrieben. Die Literaturtouristen hätten daher keine festen Vorstellungen im Kopf und seien offen für das, was sie vor Ort erwartet.
Andere Erfahrungen hat Knipp im Buddenbrookhaus gemacht, das im Roman sehr detailliert beschrieben wird. "Viele sind regelrecht enttäuscht, wenn sie das Haus betreten", sagt die Literaturwissenschaftlerin. "Denn hinter der Original-Fassade verbirgt sich heute ein modernes Gebäude, der Rest wurde im Krieg zerstört."
Wenn sich jemand auf die Spuren seiner Romanhelden begibt, möchte er oder sie vor allem den fiktiven Figuren nahe sein und das Gelesene auch körperlich nacherleben, wie Knipp durch Befragungen herausgefunden hat. Die Trips haben also eine starke emotionale Komponente und bergen daher immer auch ein gewisses Enttäuschungspotential in sich.
Ein starkes Gruppengefühl
Der Abgleich des Gelesenen mit der Realität ist aber nur ein Aspekt, der Literaturfans bei ihren Reisen antreibt, wie die Forscherin betont: "Auch das Gemeinschaftserlebnis ist wichtig. Mich direkt am Schauplatz eines Romans mit anderen Lesern auszutauschen ist etwas Anderes, als allein mit meinem Buch im stillen Kämmerlein zu sitzen." Bei den literarischen Stadtrundgängen oder Wanderungen findet daher regelmäßig ein reger Austausch und eine Art Vergemeinschaftung unter den Teilnehmern statt.