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Priorisierungen beim Impfen: Ist das gerecht?

Impfungen sind die größte Hoffnung im Kampf gegen die Corona-Pandemie und für die baldige Rückkehr zur Normalität. Aber momentan ist nicht genug Impfstoff für alle da – deshalb werden bestimmte Bevölkerungsgruppen mit Priorität geimpft. Aber wie gerecht und ethisch vertretbar sind solche Priorisierungen? Und was ist davon zu halten, dass dann Geimpfte möglicherweise in bestimmten Situationen bevorzugt werden?
FernUniversität in Hagen / NPO, 22.02.2021

Momentan liegt der Schwerpunkt der Impfkampagne auf den Alten- und Pflegeeinrichtungen.

iStock.com, Ridofranz

Zurzeit sind in der EU drei Impfstoffe gegen Covid-19 zugelassen: die mRNA-Vakzine von Moderne und Biontech/Pfizer, sowie der Vektor-Impfstoff von AstraZeneca. Weitere Impfstoffe sind schon im Zulassungsprozess. Dennoch strömt der Nachschub bislang eher spärlich. Zurzeit haben in Deutschland gut 4,7 Millionen Menschen zumindest eine erste Dosis erhalten, noch kommt es aber immer wieder zu Engpässen bei der Nachlieferung.

Die meisten müssen noch lange warten

Deswegen hat die Bundesregierung gemeinsam mit der Ständigen Impfkommission (STIKO) beschlossen, Prioritätsklassen zu bilden. Das bedeutet, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen zuerst eine Impfung bekommen, alle anderen  müssen zunächst warten, bis alle Impfwilligen dieser Gruppe versorgt wurden. Zurzeit steht die Impfung daher nur Menschen über 80 Jahren, Bewohnern sowie Personal von Alten- und Pflegeheimen und medizinisches Personal in besonders gefährdeten Bereichen zur Verfügung.

Das aber bedeutet auch, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung wahrscheinlich noch Wochen bis Monate auf eine Impfung warten muss. Gerade dies weckt aber auch viele Frage: Ist eine solche Bevorzugung bestimmter Personengruppen überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar? Hat nicht jeder ein Anrecht auf eine Impfung? Gibt es Alternativen zur Priorisierung? Und was ist mit den Freiheiten und Vorzügen, die Geimpfte dann möglicherweise bekommen?

Fragen an die Expertin

Einige dieser Fragen zur Prioritätensetzung beantwortet uns Orsolya Friedrich von der FernUniversität in Hagen. Die Juniorprofessorin für Medizinethik ist sowohl als Philosophin wie als Medizinerin promoviert.

Frau Friedrich, ist es ethisch zu rechtfertigen, bestimmte Personen oder Personengruppen zu bevorzugen, nur weil sie besonders alt sind oder einer sonstigen Risikogruppe angehören?

Orsolya Friedrich: Durchaus. Bei knappen Impfstoff-Ressourcen und damit verbundenen Priorisierungsentscheidungen gilt zwar weiterhin die ärztliche Pflicht, das Wohl jeder einzelnen Patientin und jedes einzelnen Patienten bestmöglich zu unterstützen. Diese wird aber niedriger angesetzt als die Pflichten gegenüber besonders stark von der Erkrankung betroffenen Gruppen.

Ist das denn gerecht?

Friedrich: Bei der Priorisierungsentscheidung der Impfreihenfolge geht es darum, Schäden zu vermeiden und dabei gleichzeitig bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze zu beachten. Es sollen also Menschen mit gleicher Gefährdungslage gleichen Impfstoffzugang haben. Für die Schadensvermeidung wurden in dem Vorschlag zur Impfreihenfolge der Ständigen Impfkommission (STIKO) sowohl direkte gesundheitliche Schäden an der Person als auch Schäden durch Übertragung von Krankheitserregern sowie durch Gefährdung von relevanten gesellschaftlichen Prozessen diskutiert.

Dringlichkeit spielt für die Umsetzung dieser Grundsätze eine wichtige Rolle. Dringlichkeit bedeutet in diesem Fall eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit, an der Infektion zu versterben oder intensivmedizinische Behandlung zu benötigen oder einen besonders exponierten Beruf auszuüben, sodass eine Erkrankung an vulnerable Gruppen übertragen werden kann.

Man sieht aber an den Aktualisierungen der Impfempfehlung der STIKO, dass es konkret sehr schwer sein kann, zu definieren, was Dringlichkeit bedeutet. Auf individueller Ebene können Priorisierungsentscheidungen auch immer zu Ungerechtigkeit führen. Wobei die STIKO auch darauf hinweist, dass in einer solchen Pauschalzuordnung nicht alle Impfindikationen berücksichtigt werden können, sodass Impfverantwortliche auch Einzelfallentscheidungen treffen könnten, etwa bei seltenen, schweren Vorerkrankungen.

Eine Priorisierung ist notwendig, weil bis auf weiteres nicht ausreichend Impfstoff zu Verfügung stehen wird, um alle Menschen zu impfen, die das wünschen.

Gibt es Alternativen zur Priorisierung?

Friedrich: Gesundheit ist ein sehr hohes Gut, sodass es aus meiner Sicht grundsätzlich wichtig ist, allen den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen zu ermöglichen. Lassen sich keine Wege finden, akute Knappheit an bestimmten Gesundheitsgütern wie an Impfstoffen zu beseitigen, scheint mir eine allgemeine, für alle geltende und sich an ethischen Grundsätzen ausrichtende Priorisierung alternativlos zu sein.

Die theoretische Alternative, die Verteilung von knappen Gesundheitsgütern dem freien Markt zu überlassen und sich dabei an individuellen gesundheitsbezogenen Präferenzen oder individueller Zahlungsfähigkeit auszurichten, ist mit Gerechtigkeitsgrundsätzen aus meiner Sicht nicht zu rechtfertigen. Eine andere mögliche Alternative, Impfstoffe beispielsweise zu verlosen, berücksichtigt hingegen die medizinischen Faktoren nicht, nämlich, dass manche Gruppen besonders schwer von der Erkrankung betroffen sind.

Welche Gründe dürfen aus ethischer Sicht bei der Priorisierung eine Rolle spielen?

Friedrich: Mit ethischen Grundsätzen verbunden sind Konkretisierungen, die auf medizinisch-epidemiologischen Kriterien basieren. Mit dem Versuch, Schaden zu vermeiden und dem Grundsatz grundlegender Rechtsgleichheit folgend sind u.a. konkrete medizinische Kriterien verbunden, die zur Priorisierung genutzt werden können.

Zum Beispiel korreliert mit Schadensvermeidung und Rechtsgleichheit, dass alle potenziell besonders und gleich von schweren Komplikationen betroffenen Gruppen, etwa Personen älter als 80 Jahre, gleich zu priorisieren sind. Das ist ein medizinisches Kriterium. Es liegt auf der Hand, dass es in der Praxis schwierig ist festzustellen, mit welchen Erkrankungen Personen zu welcher Gruppe im Impfstufenplan gehören.

Wer ist zur Priorisierung „bevollmächtigt“?

Friedrich: Aus der Notwendigkeit ethische Grundsätze, juristische Vorgaben und medizinisch-epidemiologische sowie gesellschaftliche Faktoren in die Priorisierungsentscheidungen einzubeziehen, ergibt sich m.E., dass interdisziplinäre Gruppen von Expertinnen und Experten solche Entscheidungen reflektieren und mittragen sollten. Dies ist bei der Erstellung der aktuellen Empfehlungen auch so geschehen.

Aktuell regelt die Impfreihenfolge eine Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums, die auf Empfehlungen verschiedener interdisziplinärer Fachgruppen basiert. Im Idealfall finden zu der Frage auch konstruktive gesamtgesellschaftliche Debatten statt und es kommt zu gesetzlichen Regelungen.

Was wiegt letztendlich höher: möglichst viele Menschen zu retten oder das Leben und die Grundrechte einer einzelnen Person?

Friedrich: Konkrete Hauptziele der Impfreihenfolge sind, schwere COVID-19-Verläufe sowie Todesfälle zu verhindern, Personengruppen mit hohem Expositions- oder Übertragungsrisiko an vulnerablen Gruppen zu schützen und besonders relevante gesellschaftliche Prozesse aufrechtzuerhalten. Es geht also vor allem darum, das Leben und die Gesundheit derjenigen vorrangig zu schützen, die erwartbar am schwersten betroffen wären.

Das bedeutet nicht, dass das Leben oder die Gesundheit der anderen weniger wert wären! Diese haben aber nach den aktuellen medizinisch-epidemiologischen Erkenntnissen ein deutlich geringeres Risiko, selbst einen Gesundheitsschaden zu erleiden, oder durch Übertragung anderen einen Schaden zuzufügen. Ob die aktuelle Impfstrategie insgesamt die beste ist, um diese Ziele effektiv zu erreichen, kann ich nicht beurteilen; das ist Aufgabe von Virologinnen und Virologen und Public-Health-Fachleuten.

Dürfen geimpfte Menschen mehr Rechte erhalten als solche, die sich nicht impfen lassen wollen? Voraussetzung ist natürlich, dass es genügend Impfstoff für alle gibt, dass Impfungen erwiesenermaßen gegen die Weiterverbreitung der Infektionen helfen und dass keine individuellen medizinischen Gründe gegen eine Impfung sprechen.

Friedrich: Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist die Impfung für mich nicht nur Selbstschutz, sondern auch ein Ausdruck solidarischen Handelns zum indirekten Schutz nahestehender und fremder vulnerabler Personen und Gruppen. Sobald die genannten Bedingungen vorherrschen, sehe ich keine guten Gründe, warum man nicht alle ursprünglichen Freiheitsrechte für alle wiederherstellen sollte. Das sind dann aber keine ‚Zusatz- oder Sonderrechte‘ für Geimpfte.

Was Privatanbieter dann tun, ob sie also Geimpften mehr Rechte einräumen, ist eine andere Sache. Sie dürfen in dieser Wirtschaftsform schon immer frei Verträge abschließen, bis auf ein paar Ausnahmen, wo es um eine Basisversorgung oder grundlegende Teilhabe am Gesellschaftsleben geht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man diese Praxis aufbrechen wird. Wichtig wird in meinen Augen sein, gute Schutzkonzepte und Möglichkeiten einer gleichwertigen Teilhabe für diejenigen zu entwickeln, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können.“

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