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Impfpflicht: Was können wir aus der Geschichte lernen?

Die vierte Corona-Infektionswelle ist noch in vollem Gange und die neuesten Erkenntnisse über die Omikron-Variante geben auch keinen Grund zum Aufatmen. Gerade deshalb wird mittlerweile auch in Deutschland über eine mögliche Impfpflicht diskutiert. Das erste Gesetz dieser Art wurde schon vor über 200 Jahren eingeführt – doch was haben wir daraus gelernt?
JFL, 17.12.2021

Heute sind fast alle Schutzimpfungen in Deutschland freiwillig. Wird sich das bei SARS-CoV-2 ändern?

GettyImages, aprott

Impfungen sind eine der größten Errungenschaften der modernen Medizin. Sie schützen uns vor tödlichen oder äußerst schweren Krankheiten und können sogar dabei helfen, bestimmte Viren auszurotten. Letzteres ist der Menschheit zumindest mit den Erregern der Pocken gelungen.

Im 18. und 19. Jahrhundert waren Pocken noch ein großes weltweites Problem. Allein in Europa fielen der Krankheit jedes Jahr knapp eine halbe Millionen Menschen zum Opfer. Jedes zehnte Kind ist damals an den Pocken gestorben und selbst die Überlebenden waren meist für den Rest ihres Lebens gezeichnet.

Kuh-Virus als Prävention

Die ersten Schutzversuche gegen das hochansteckende Virus kamen in Europa zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf. Damals wurden gesunde Menschen absichtlich mit dem Eiter von Erkrankten, die einen leichten Krankheitsverlauf hatten, infiziert. So erlitten sie nur leichte Schäden und waren ab da immun gegen die Pocken. Hatten sie jedoch Pech, entwickelten sie eine schwere Pockeninfektion und starben.

Die Geschichte der modernen Impfungen begann letztendlich mit einem englischen Jungen im Jahr 1796. Edward Jenner, ein Arzt aus Berkeley, bemerkte, dass eine Infektion mit Kuhpocken auch vor den menschlichen Pocken schützt und dass die Impfreaktion deutlich milder, ohne bleibende Schäden verlief. Jenner spritzte dem achtjährigen James Phipps ein Serum mit Kuhpocken und infizierte ihn sechs Wochen später absichtlich mit der menschlichen Variante. Es zeigte sich, dass Jenners Impfung wirkte: Er konnte den Jungen erfolgreich immunisieren.

Mangelnde Verbreitung führte zur Impfpflicht

Nach anfänglicher Skepsis unter Jenners Kollegen begannen auch andere Ärzte damit, ihre Patienten mithilfe der Kuhpocken-Impfung zu schützen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es europaweit Impfangebote – die große Euphorie über den schützenden Piks blieb in der Bevölkerung aber vorerst aus. Das Misstrauen war zu groß. Es verbreitete sich sogar das Gerücht, geimpfte Kinder würden verrückt werden und anfangen, wie eine Kuh zu brüllen.

Als weltweiter Vorreiter entschloss sich Bayern im Jahr 1807 dann dafür, den Schutz der Bevölkerung in die eigene Hand zu nehmen: Das Königreich führte die Pocken-Impfpflicht ein. Durch die offensichtliche Wirksamkeit der Injektion sank auch die anfängliche Skepsis in der Bevölkerung. Dennoch gab es vereinzelten Widerstand.

Gegen diesen ging die bayerische Regierung entschieden vor: Wer sich oder sein Kind nicht impfen lassen wollte, wurde mit einer Geldbuße belegt und konnte sogar in Gefängnis kommen. Mancherorts wurden sogar Zwangsimpfungen von Kindern durchgeführt.

Pocken-Impfung wird Standard

In den folgenden Jahren führten dann andere deutsche Königreiche, aber auch Großmächte wie England und Russland ebenfalls die Impfpflicht gegen Pocken ein. Auch Napoleon ließ seine Soldaten durchimpfen. Er dankte dem englischen Arzt für seine Errungenschaft mit einer Ehrenmedaille und das, obwohl Frankreich mit den Briten im Krieg stand.

Nach dem Zusammenschluss des Deutschen Reiches 1871 wurde drei Jahre später auch hier das Reichsimpfgesetz erlassen, mit dem eine verpflichtende Pockenimpfung festgehalten wurde. In den 1950er-Jahren wurde die Impfpflicht dann erneut diskutiert, da Kritiker sie nicht mit dem im Grundgesetz verankerten Persönlichkeitsrecht für vereinbar hielten. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte den Einspruch jedoch ab, da die allgemeine Gesundheit im Vordergrund stünde.

Die Narben am Oberarm vieler Menschen über 50 Jahre erinnern an den erfolgreichen Kampf gegen die Pocken. Sie stammen von der geplanten Infektion an den Einritzstellen der Impfpistole.

Eric Koch (Anefo) / Nationaal Archief NL

Die Ausrottung des Pockenvirus gelingt

Als Folge der weitverbreiten Impfungen sanken die weltweiten Pocken-Infektionszahlen nach und nach. 1967 beschloss die Weltgesundheitsorganisation WHO dann, dem Pockenvirus mit einer entschlossenen Kampagne endgültig den Garaus zu machen. Die WHO ging weltweit jedem Verdachtsfall nach und drängte verstärkt auch auf eine durchgehende Impfquote.

Mit Erfolg: Ende 1979 erklärte die WHO die Pocken offiziell für ausgerottet. In Deutschland wurde die Impfpflicht bereits 1976 nach und nach zurückgefahren und 1983 endgültig aufgehoben. Obwohl die menschlichen Pockenviren nur vom Menschen verbreitet werden und es weltweit keine Infektionen mehr gibt, sind die Erreger übrigens trotzdem nicht vom Erdball verschwunden. In zwei WHO-geführten Laboren in Russland und den USA sind auch heute noch Pockenviren gelagert. Das deutsche Robert-Koch-Institut hat seit 2002 auch wieder Impfstoffe gegen Pocken bei sich eingelagert – nur für den Fall.

Wie sieht es heute aus?

Die Ausrottung der Pocken gilt als Lehrbeispiel dafür, wie sich eine tödliche Krankheit durch konsequentes Impfen besiegen lässt. Auch andere schwerwiegende und einst häufige Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung, Tuberkulose oder Keuchhusten sind seit Beginn der standardmäßigen Impfungen dagegen bei uns selten geworden.

Heute sind fast alle Schutzimpfungen in Deutschland freiwillig. Vor allem für Kleinkinder gelten aber einige Immunisierungen als besonders wichtig und sinnvoll, weil sie schwere Verläufe bei Krankheiten wie Mumps, Masern oder Keuchhusten verhindern. Die einzige Krankheit, bei der seit März 2020 eine Impfpflicht gilt, sind die Masern: Weil sich Ausbrüche durch nachlassende Herdenimmunität mehrten, sind seither nur noch geimpfte Kinder in Kita oder Grundschule zugelassen.

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