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Künstliche Arme und Beine mit Gedankenkraft steuern
Wenn Menschen Gliedmaßen verlieren, verändert das ihr komplettes Leben. Sie müssen einerseits psychisch mit dem Verlust klarkommen und sich andererseits im Alltag extrem umgewöhnen. Dabei hilft ihnen üblicherweise eine Prothese. Die Technik darin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten allerdings enorm weiterentwickelt und unterstützt Menschen mehr denn je dabei, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden.
Vom Holzbein zum Supercomputer
Die ersten Prothesen entstanden vermutlich im alten Ägypten und bestanden damals noch aus starrem Holz. Aus späteren Zeitaltern sind Prothesen aus Bronze oder Eisen bekannt. So trug auch der berühmt-berüchtigte Ritter Götz von Berlichingen eine Handprothese aus Metall, bekannt als „Eiserne Hand“. Laut Überlieferung ließen sich die Finger seiner Prothese sogar über verschiedene Mechanismen und Knöpfe bewegen.
Die große Revolution der Prothetik begann tragischerweise während des Ersten Weltkriegs und setzte sich im Zweiten fort. Aufgrund der zahlreichen auf dem Schlachtfeld verstümmelten Kriegsheimkehrer waren Prothesen mehr denn je gefragt. So entwickelte der Arzt Ferdinand Sauerbruch im Zuge des Ersten Weltkriegs eine Armprothese, die Patienten mit natürlichen Muskelbewegungen steuern konnten. Während des Zweiten Weltkriegs stellte man Armprothesen mit Greiffunktion her. Elektromotoren, die in kleinen Gelenken der Prothese saßen, machten sie beweglich.
Heutzutage sind myoelektronische Prothesen weit verbreitet. Patienten steuern sie mit den Muskeln des verbliebenen Armstumpfes. Das An- und Entspannen sendet Muskelsignale zu einem Mikroprozessor, der diese wiederum in die „Sprache“ der Prothese übersetzt und sie bewegt. Betroffene können damit zum Beispiel Gegenstände greifen und halten und außerdem bestimmen, wie schnell und kräftig ihre Bewegungen sind. Doch es dauert lange, bis Patienten mit einer solchen Prothese richtig umgehen können. Experten vergleichen den Prozess mit dem Erlernen eines Instruments.
Die Kraft der Gedanken
Die neuesten Hightech-Modelle auf dem Prothesenmarkt setzen statt auf Muskel- auf Gedankenkraft und sind dadurch intuitiver zu bedienen. Das erste Modell dieser Art, eine von Hirnströmen gesteuerte Armprothese, wurde 2007 vorgestellt. Damit Patienten eine solche Prothese benutzen können, müssen in ihrem Arm- beziehungsweise Beinstumpf noch intakte Nerven vorhanden sein. Diese „verpflanzen“ Chirurgen in einer Operation, um so überhaupt erst den Grundstein für eine gedankengesteuerte Prothese zu legen.
Für eine Armprothese leiten sie die Armnerven während des Eingriffs auf die Brustmuskulatur um, die später zur Schnittstelle mit dem Gehirn wird. Für Beinprothesen pflanzen sie die Beinnerven in die Oberschenkelmuskulatur. Bis die Nerven in die Muskeln eingewachsen sind, vergehen meist mehrere Monate.
Dann kann es endlich losgehen mit dem Einsetzen der Prothese und deren Gedankensteuerung. Betroffene müssen dafür an die Bewegung denken, die sie mit der Prothese ausführen möchten, zum Beispiel eine Faust ballen. Der Gedanke, eine Faust zu ballen, wird vom Gehirn in elektrische Signale verschlüsselt, die bis zu den Armnerven wandern. Spezielle Elektroden empfangen diese Signale und geben sie an einen Mini-Computer weiter. Dieser entschlüsselt die elektrischen Signale wieder und übersetzt sie, sodass sie für die Prothese verständlich werden. Dadurch kann sich die Prothese schließlich so bewegen, wie der Gedanke es befohlen hat – und das in Echtzeit.
Forschende ermöglichen den Prothesen inzwischen immer feinfühligere Bewegungen. So haben Wissenschaftler der Johns-Hopkins-Universität vor einigen Jahren beispielsweise Prothesen entwickelt, die jeden Finger einzeln bewegen können. Allerdings erfordert dies einiges an Training. Prothesen mit Gedankensteuerung sind zwar intuitiver, da Betroffene ihren Arm vor der Amputation schließlich auch mit Gedankenkraft bewegt haben, aber sie müssen sich trotzdem erst eingewöhnen. Spätestens nach zwei Jahren können sie den neuen Arm dann aber in vollem Umfang bewegen.
Endlich wieder fühlen
Es gibt aber weiterhin einen entscheidenden Unterschied zum natürlichen Körperteil: Die Prothese bleibt ein Fremdkörper, den wir nicht bewusst als Teil unserer Selbst wahrnehmen können. Das liegt daran, dass zwar Informationen vom Gehirn in die Prothese wandern, aber nicht umgekehrt, womit Betroffene weder die Prothese spüren noch die Gegenstände fühlen können, die sie mit ihr greifen. Wo genau sich die künstliche Hand befindet und ob der gehaltene Gegenstand nun glatt, rau, warm oder kalt ist, verrät ihnen zwar ein Blick, aber nicht die Prothese selbst.
Auch von Hirnsignalen gesteuerte Prothesen konnten diese Wahrnehmungen lange Zeit nicht ersetzen, doch auch auf diesem Feld gibt es mittlerweile große Fortschritte. So ist es etwa Wissenschaftlern der Universität Freiburg gelungen, dass ein Prothesenträger mit amputiertem Unterarm wieder Gegenstände wie einen Plastikbecher, eine Mandarine oder einen schweren Holzwürfel erfühlen und präzise greifen konnte. Hierfür hatten sie ihm zuvor Elektroden eingesetzt, mit denen die künstliche Hand Informationen ans Gehirn senden konnte.
Auch für Träger von Beinprothesen gibt es erfolgversprechende Nachrichten. 2019 führte ein Forscherteam unter Leitung der ETH Zürich einen ähnlichen Eingriff bei zwei Personen mit amputiertem Bein durch. Das Ergebnis: Da die Prothese ähnlich wie ein natürliches Bein Sinnesreize übermittelte, liefen die Patienten viel sicherer. Außerdem litten sie unter weniger Phantomschmerzen, Schmerzen, die von eigentlich nicht mehr vorhandenen Gliedmaßen ausstrahlen.
Die Zukunft der Prothetik
Prothesen, die sich per Gedanken steuern lassen und sich dank künstlichem Tastsinn mehr wie ein natürliches Körperteil anfühlen, werden als die Zukunft der Prothetik gehandelt. Aktuell sind sie unter Prothesenträgern allerdings noch nicht weit verbreitet. Das liegt daran, dass die Modelle teuer sind, und zwar intensiv an ihnen geforscht wird, viele aber noch nicht marktreif sind. Wenn die Zahl der neuartigen Prothesen wächst und sie preiswerter werden, könnten sie schon in ein paar Jahren gängiger sein und mehr Menschen weltweit helfen.