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“Kurze Hoffnung“
Der 60jährige Wilhelm Grothaus, kommunistischer Widerstandskämpfer während des Nationalsozialismus, wird am 16. Juni in Dresden an die Spitze des örtlichen Streikkomitees gewählt. Der kaufmännische Leiter der Firma Abus, der am 23. Juni zu einer 15jährigen Haftstrafe verurteilt wird, schildert den Verlauf des 17. Juni in Dresden:
Beseitigung der Regierung
“Wir
haben uns dann in der großen Montagehalle eingefunden. Hier versuchte
zunächst der Vertreter der Zentralen Parteileitung der Bezirksleitung
zu sprechen, der niedergeschrien wurde. Dann versuchte der Gewerkschaftsobmann
zu sprechen, dem es aber auch nicht gelang, zu Wort zu kommen. Dann bin ich
auf eine große Drehbank gestiegen und habe zu den Versammelten, etwa
1600 Arbeitern, gesprochen, und dann wars auch still. Die Arbeiter
kannten mich ja alle und wussten auch, was ich wollte, mehr oder weniger.
Ich habe dann den Arbeitern gesagt, dass .. wir diesen Kampf... umgestalten
müssten in einen politischen Kampf und dass [die] entscheidenden Forderungen
die seien...:
- Beseitigung der Regierung
- Sturz des kommunistischen Systems
- Freilassung aller politischen Gefangenen
- freie und geheime Wahlen
- die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.
Die ganze Versammlung hat meinen Ausführungen unter großem Beifall zugestimmt...
Russen rührten sich nicht
Ich
war ja eigentlich für kurze Zeit hoffnungsvoll, wie ich sah, dass die
Russen sich nicht rührten. Die rührten sich auch nicht; die guckten
zu, dass ein Teil der Polizeibeamten mitmachte, die marschierten mit in den
Zügen, nicht alle, aber doch ein ganz großer Teil der Polizei marschierte
mit... Dann kam hinzu die Bevölkerung, die stand zu Zehntausenden an
den Straßen. Man hätte Parteiabzeichen von der SED, Mitgliedsbücher,
hätte man körbeweise einsammeln können. Das haben die Leute
alles weggeworfen.
Parteigrößen waren geflüchtet
Wir
sind an einer Schule vorbeigekommen, da haben die Kinder die russischen Lehrbücher
zerfetzt, aus den Fenstern rausgeschmissen auf den Schulhof. Die Parteigrößen
waren alle geflüchtet. Es war überhaupt niemand mehr da. Ich denke,
das läuft ja glänzend, also ohne jede Vorbereitung, ohne alle Waffen,
bloß von dem Volkswillen getragen. Also da war ich wirklich hoffnungsvoll,
muss ich sagen...
Alles wieder verloren
Ich bin dann
nach Hause gegangen und hörte vielleicht gegen 21 Uhr nach meiner Erinnerung
vom Londoner Sender die Aufforderung: Stellt den Kampf ein, es hat
keinen Sinn mehr! Diese Mitteilung hat mich, ich möchte sagen,
mehr als betäubt, weil mir nicht eingehen wollte, dass nach diesem gewaltigen
Kampf, der nur mit dem Willen und mit dem Geist gegen den Kommunismus
zum Austrag gekommen war, ohne jede Waffe, ohne einen Schuss, dass jetzt im
letzten Augenblick alles das, was schon erreicht war, wieder verlorenging.“