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Was steckt hinter Nahtod-Erfahrungen?

Manche sehen einen dunklen Tunnel mit Licht am Ende, andere erleben Stationen ihres Lebens im Schnelldurchlauf – von solchen Erfahrungen berichten viele Menschen, die wiederbelebt wurden oder auf andere Weise dem Tod nahekamen. Doch wie real sind diese Gefühls- und Sinneseindrücke und wie entstehen sie? Inzwischen gibt es dazu einige wissenschaftliche Erkenntnisse – mit teilweise erstaunlichen Ergebnissen.
NPO, 08.07.2019

Eines der Grundmuster der Nahtod-Visionen ist ein Tunnel mit hellem Licht am Ende.

iStock.com, Pobytov

Seit Jahrhunderten berichten Menschen immer wieder von besonders intensiven Visionen während Nahtod-Ereignissen – beispielsweise während eines kurzzeitigen Herzstillstands. Einige sehen einen dunklen Tunnel mit hellem Licht am Ende, andere sehen eine Mauer oder Barriere vor sich, die ihnen instinktiv als Grenze zum Tod erscheint. Viele Patienten erleben auch ein anomal schnelles oder langsames Vergehen der Zeit oder eine Verschärfung ihrer Sinne. Relativ häufig ist auch ein Gefühl der Ruhe und des totalen Friedens, manche hören dabei Stimmen oder fühlen die Gegenwart eines anderen Wesens.

Außerhalb des Körpers

Besonders erstaunlich sind Berichte von Patienten, die nach einer Wiederbelebung von einer außerkörperlichen Erfahrung berichten: Sie hatten den Eindruck, sich von ihrem Körper zu lösen und über sich im Raum zu schweben. Von dort aus beobachten sie dann beispielsweise, wie Ärzte sich um die Wiederbelebung des Körpers bemühen oder sehen ihre Angehörigen unter sich am Krankenbett sitzen.

Einige solcher außerkörperlichen Erfahrungen sind verblüffend realistisch und akkurat, wie der Fall eines 57-Jährigen zeigt, der nach einem Herzstillstand wiederbelegt wurde. "Er beschrieb die Menschen, Töne und Aktivitäten, die während seines Herzstillstands präsent waren, ganz akkurat und zutreffend", berichten die Wissenschaftler, die den Fall untersucht haben. "So beschrieb der Patient, dass er an der Decke des Raumes schwebte, während unter ihm ein kahlköpfiger Mann und eine Schwester an seinem Körper hantierten. Außerdem hörte er eine Computerstimme sagen: 'shock the patient, shock the patient'." Tatsächlich bestätigten die Krankenakten, dass ein automatisches Notfallprogramm angesprungen war und dass einer der herbeigeeilten Mediziner kahlköpfig war.

Patienten berichteten wiederholt von dem Gefühl, sich außerhalb des eigenen Körpers zu befinden ihren eigenen Körper und dessen Umgebung von außen beobachten zu können.

Gemeinfrei

Rund zehn Prozent hatten schon einmal eine Nahtod-Erfahrung

Was aber ist von solchen Berichten zu halten? Sind es bloße Hirngespinste, die durch Fieber, Krankheit und die körperliche Extremsituation entstehen? Klar scheint, dass acht bis zehn Prozent aller Menschen schon einmal eine Nahtod-Erfahrung erlebt haben, darauf deuten Studien hin. Die meisten dieser ungewöhnlichen Bewusstseinszustände treten bei einem kurzzeitigen Herzstillstand auf. Es gibt aber auch Fälle, bei denen ein epileptischer Anfall, psychoaktive Drogen oder eine intensive Meditation diese Erlebnisse auslösen.

Aber worum handelt es sich? Meist gelten solche Nahtod-Erfahrungen als Halluzinationen – als intensive Sinneserfahrungen und realitätsnahe Eindrücke, die vom Gehirn selbst erzeugt werden. Seltsam ist allerdings, dass diese Erfahrungen bei Wiederbelebten in einer Zeit stattfanden, in denen das Herz der Patienten definitiv stillstand. Mit dem Pumpen des Herzens aber endet auch die Blut- und Sauerstoffversorgung des Gehirns – und gerade dieses Organ reagiert besonders sensibel auf einen Sauerstoffmangel. 

Gängiger Annahme nach ist das Gehirn nach einem Herzstillstand daher maximal 20 bis 30 Sekunden zu intensiver Aktivität fähig. Im Falle des Patienten mit dem kahlköpfigen Arzt traten seine außerkörperlichen Erfahrungen aber während eines drei Minuten langen Herzstillstands auf.

Aktivitätsschub im sterbenden Gehirn

Um dem Phänomen der Nahtod-Erfahrungen bei einem Herzstillstand näher auf den Grund zu gehen, haben Forscher vor einige Jahren Versuche mit Ratten durchgeführt. Dafür implantierten sie den Tieren Elektroden unter die Schädeldecke und zeichneten zunächst deren Hirnströme während normaler Wachperioden und in Narkose auf. Dann lösten die Wissenschaftler bei den Ratten einen Herzstillstand durch Injektion einer Kaliumchlorid-Lösung aus und zeichneten anschließend weiter die Hirnaktivität auf. Das überraschende Ergebnis: Etwa zehn Sekunden nach dem Herzstillstand begann plötzlich die Intensität einiger Hirnwellen stark anzusteigen. Diese Hirnströme erreichten sogar Werte, die deutlich über denen im wachen Zustand lagen und waren auffallend synchron.

Erst nach diesem Aktivitäts-Schub ebbten dann die Hirnströme endgültig ab und hörten schließlich ganz auf.

Nach Ansicht der Forscher deuten ihre Beobachtungen daraufhin, dass das Gehirn direkt nach dem Herzstillstand durchaus noch zu organisierter elektrischer Aktivität fähig ist – und dass diese Aktivität entscheidende Merkmale einer bewussten Verarbeitung von Informationen aufweist. Die intensiven Nahtoderfahrungen Sterbender könnten daher durchaus durch diesen kurzzeitigen Aktivitätspuls des Gehirns ausgelöst werden.

Wie real sind die Eindrücke?

Gerade bei den außerkörperlichen Erfahrungen gibt es eine weitere spannende Frage: Wenn es bloße Halluzinationen sind, müsste das Gesehene allein dem Gehirn entspringen – und dürfte nicht die realen Ereignisse während der Wiederbelebung widerspiegeln. Ob das der Fall ist hat ein internationales Forscherteam vor einigen Jahren in einem Experiment untersucht. Dafür präparierten die Forscher in fünf Kliniken mehrere Krankenzimmer und Notfallräume: Sie legten dort verschiedene bunte Bilder so auf Wandregale, dass sie nur von oben erkennbar waren – beispielsweise von einem an der Decke Schwebenden.

Immer wenn dann ein Patient in einem dieser Räume einen Herzstillstand erlitt und wiederbelebt wurde, befragten sie diesen dann hinterher ausführlich nach seinen Erfahrungen. 55 Patienten gaben dabei an, sich an Erlebnisse und Gedanken erinnern zu können, die sich während der Zeit ihres Herzstillstands und ihrer Wiederbelebung ereigneten. Nach näherer Befragung allerdings blieben nur neun Patienten übrig, deren Berichte auf echte Nahtod-Erfahrungen hindeuteten, wie die Forscher berichten. Zu diesen gehört auch der eingangs erwähnte Patient mit der außerkörperlichen Erfahrung. Allerdings: Die Bilder auf den Regalen sah keiner von ihnen.

"Zwar konnten wir bei den meisten Patienten nicht eindeutig überprüfen, wie real ihre Erlebnisse waren, als Halluzinationen kategorisieren können wir sie aber auch nicht“, sagt Studienleiter Sam Parnia vom Stony Brook Medical Center in New York.  Nach Ansicht der Wissenschaftler ist daher zu diesem Thema noch einiges offen – und vor allem der Fall des Patienten mit dem kahlköpfigen Arzt geben Anlass zum Nachdenken.

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