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Chaostheorie: Vom Schmetterling zum Apfelmann

Was ist Chaos?

Für die Physik weit mehr als nur ein unüberschaubares Wirrwarr. Der Gegenstand der Chaostheorie ist nämlich ein Zustand, der korrekterweise »deterministisches Chaos« heißt und nur in den Medien verkürzt »Chaos« genannt wird. Untersucht werden Vorgänge, die meist ganz einfachen klassischen Naturgesetzen gehorchen, etwa die Bewegung von Billardkugeln oder bestimmte chemische Reaktionen. Deren Entwicklung ist nicht vorhersagbar: Aus nur geringfügig unterschiedlichen Anfangsbedingungen können völlig andere Endzustände resultieren. Auch wenn die Erforschung solcher Systeme erst vor wenigen Jahrzehnten in Angriff genommen wurde, sind es beleibe keine exotischen Prozesse: Das gesamte Wettergeschehen, die Bewegung von Planeten, die Entwicklung der Aktienkurse und vieles mehr verhält sich im hier beschriebenen Sinn chaotisch.

Gibt es Ordnung im Chaos?

Ja, durchaus – das macht dieses Forschungsgebiet ja so interessant. Alle Muster, die wir in der Natur – der unbelebten wie in der belebten – finden, sind letztlich geordnete Strukturen, die sich aus anfänglichem Chaos – einem Wirrwarr von Einzelobjekten und Einzelvorgängen – heraus entwickelt haben. Und wie die Forschung zeigt, ist deterministisch-chaotisches Geschehen durchaus in gewissen Grenzen vorhersagbar: Chaotische Vorgänge können unter bestimmten Bedingungen nämlich auf sog. Attraktoren zulaufen, was nichts anderes bedeutet, als dass sich plötzlich Strukturen bilden, wieder verschwinden, sich erneut bilden usw.

Kann ein Schmetterling die Welt verändern?

Wahrscheinlich nicht, doch einem berühmten Zitat von Edward N. Lorenz zufolge kann »der Flügelschlag eines Schmetterlings im Amazonas-Urwald (…) einen Orkan in Europa auslösen«. Damit wollte er darauf hinweisen, dass winzigste Änderungen in einem komplexen chaotischen Geschehen wie dem Wetter sich an weit entfernten Orten zu großen Veränderungen aufschaukeln können. Dass ein Meteorologe wie Lorenz dieses Zitat prägte, das den Beginn der modernen Chaosforschung markiert, ist kein Zufall: Die Unvorhersagbarkeit von Wettervorgängen ist ein Gemeinplatz. Doch es dauerte viele Jahre, bis die Wissenschaft einsah, dass selbst die scheinbar ewig gleichen Planetenbahnen auf lange Sicht chaotisch sind. Und dies hat sogar Auswirkungen auf die Klimaentwicklung der Erde, z. B. auf die Abfolge von Eiszeiten und Wärmeperioden.

Was sind Fraktale?

Fraktale sind geometrische Gebilde, die sich bei der Lösung von deterministisch-chaotischen Gleichungen ergeben und oft von überraschender Schönheit, Regelmäßigkeit und Vielfalt sind. Eines der bekanntesten fraktalen Gebilde ist das »Apfelmännchen«. Die mathematischen Gleichungen, nach denen fraktale Computergrafiken berechnet werden, sind oft nicht allzu schwierig, dennoch ist die Berechnung oft recht unanschaulich. Häufig verwendet man sog. Rekursionen: Das Ergebnis des ersten Rechenschritts ist die Grundlage des zweiten, dessen Ergebnis die des dritten usw.

Was macht Fraktale so besonders?

Zwei geometrische Eigenarten: die Selbstähnlichkeit und die Tatsache, dass Fraktale nicht etwa ein-, zwei- oder dreidimensional sind, sondern eine gebrochenzahlige Dimensionalität aufweisen, also z. B. 2 ½-dimensional oder 1 4/7-dimensional sind. Letzteres gab diesen seltsamen Objekten auch ihren Namen, denn »fractum« heißt auf Lateinisch »gebrochen«.

Anschaulicher ist die andere Fraktaleigenschaft, die Selbstähnlichkeit. Damit ist Folgendes gemeint: Egal, wie stark man ein Fraktal vergrößert oder verkleinert, stets sieht es sich selber wieder ähnlich. So haben die Seitentriebe von Farnwedeln wiederum die Gestalt eines Farnwedels und deren Seitentriebe ebenfalls. Die Spiralen am Rand des Apfelmännchens führen immer wieder zu neuen Spiralen, aus denen kleine Apfelmännchen sprießen, die wieder Spiralen tragen – und immer so weiter, bis hinunter zu unendlich kleinen Abständen.

Herrscht Chaos beim Herzinfarkt?

Beim Herzkammerflimmern geht das Herz von regelmäßigem zu chaotischem Verhalten über – mit fatalen Folgen. Im Normalfall wird das Herz entsprechend dem Energiebedarf des Körpers regelmäßig zum Schlagen angeregt. Bei krankhaften Veränderungen kann es jedoch zum Herzkammerflimmern kommen. Das ist eine chaotische Selbsterregung des Herzens mit über 350 Anregungsimpulsen pro Minute, wodurch die Pumpleistung völlig ausfällt. Im Elektrokardiogramm (EKG) kann sich ein mögliches Herzkammerflimmern durch Doppel- und Vierfachrhythmen schon vorher ankündigen. Diese sog. Periodenverdopplung ist in der Chaosforschung als ein typischer Weg ins Chaos bekannt.

Wussten Sie, dass …

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die Erkenntnisse aus der Chaosforschung in den unterschiedlichsten Lebensbereichen gelten? Beispiele dafür sind die »chaotischen« Sprünge am Aktienmarkt, die Klimaentwicklung oder die Bildung von Verkehrsstaus.

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