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Herbstmond September – ein Monat für die Demokratie

Der neunte Monat ist einer der schönsten. Niemanden kümmert noch die Glut des Sommers, aber richtig kalt ist es auch noch nicht. Die Bauern freuen sich, dass sie als Lohn für Aussaat und Pflege ihrer Pflanzen nun eine satte Ernte im Sack haben. Überhaupt ist der September ein ausgewogener Monat – sogar das Tierkreiszeichen Waage beginnt hier. Ein besonders markantes Datum für die Ausgewogenheit der Bundesrepublik war in diesem Jahr der 22. September: Der Tag war genauso lang wie die Nacht, kalendarischer Herbstbeginn auf der Nordhalbkugel also. Und Deutschland hat gewählt – irgendwie. Eine neue Regierung haben wir trotzdem noch nicht. Denn in unserer Demokratie geht es ein bisschen zu wie auf dem Spielplatz: Bis sich neue Spielkameraden zusammenfinden, muss erst mal reichlich am Karussell gedreht werden.
von wissen.de-Autor Jens Ossa, September 2013

Regierungsbildung – ein Kinderspiel

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Picture-Alliance GmbH, Frankfurt/Rainer Jensen
Während sich die Blätter an den Bäumen herbstlich bunt färben, kommt das traditionelle Farbenmischen nach der Bundestagswahl in diesem Jahr eher farblos daher: Schwarz möchte mit Rot oder Grün, am liebsten jedoch mit Rot. Rot möchte aber nicht mit Schwarz – jedenfalls nicht so schnell –, und Grün ziert sich auch. Links würde gern mit Rot und Grün, Rot aber nicht mit Links. Und Gelb spielt nicht mehr mit.

Setzen wir anstelle der Parteibezeichnungen doch einmal die Namen Paul, Anna, Lotte, Lars und Timm. Das verlegt die Szene auf einen Kinderspielplatz – ist ja im Hinblick auf die Bundespolitik mitunter gar nicht so abwegig. Anna hätte gern mit Timm gespielt, aber der muss zum Nachhilfeunterricht und kann nicht mehr mitspielen. Sie würde auch mit Paul oder Lars spielen, aber die sind unschlüssig, ob sie nicht lieber zusammen ihre Zeit verbringen – wie schön könnten die beiden gemeinsam Anna ärgern! Und dann ist da noch Lotte, die findet Paul und Lars eigentlich ganz nett, aber die beiden wollen partout nichts mit ihr zu tun haben. Am Ende stehen alle blöd da: Das gemeinsame Spiel kommt zum Erliegen, aber nach Hause zu gehen ist auch keine Option.

Was auf Spielplätzen ganz normal ist, gestaltet sich auf der politischen Bühne zäh – schließlich sollen hier die Freundschaften vier Jahre halten, und das will wohlüberlegt sein. Demokratie ist eben nichts für Kindsköpfe.

 

Es lebe die Demokratie

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Picture-Alliance GmbH, Frankfurt/Reynaldo Paganelli
A propos Demokratie: Können Sie sich noch an die Szene aus Casablanca erinnern, als die Nazis in Ricks Café „Die Wacht am Rhein“ anstimmen und daraufhin Humphrey Bogart alias Rick von seinem Unterhaltungsorchester die französische Nationalhymne spielen lässt? Ergriffen schmettern die bunt zusammengewürfelten Barbesucher gemeinsam die Marseillaise, am Ende ruft Ricks verschmähte Ex-Freundin Yvonne noch mit glühender Begeisterung „Es lebe Frankreich! Es lebe die Demokratie!“ So tief die Filmszene uns mal berührt hat, so absurd scheint es uns heute, der Demokratie derartige Begeisterungsstürme zu widmen. Auch der 2007 von den Vereinten Nationen eingeführte Internationale Tag der Demokratie – übrigens zufälligerweise am 15. September – hat bislang wenig Emotionen hochkochen lassen.

Das könnte damit zusammenhängen, dass Demokratie, ist sie erst einmal etabliert, die Politik ganz schön uninteressant macht. Mal von den üblichen Missständen abgesehen geht der Alltag seinen Gang – ob nun die SPD oder die CDU oder wer auch immer die Regierung anführt, macht für viele Menschen kaum einen Unterschied. Trotzdem läuft das Wer-mit-wem-Spiel der Koalitionssuche allen anderen tagesaktuellen Ereignissen den Rang ab. Selbst Syrien ist auf die Innenseiten der Zeitungen gewandert, und ob die EU in der Krise oder unsere Daten in der Hand unberechenbarer Spione sind, interessiert weniger als die Frage, mit wem Anna die nächsten vier Jahre auf den Spielplatz geht.

In einem System mit Mehrheitswahlrecht wie in den USA gäbe es nur Anna und Paul, einer der beiden würde die Sandkiste für sich allein gewinnen. Hier haben wir ein Verhältniswahlrecht, das Platz für viel mehr Kinder auf dem Polit-Spielplatz zulässt. Eigentlich ja schön. Das funktioniert aber nur, wenn dann am Ende auch irgendjemand bereit ist, mit dem anderen zu spielen.

Vielleicht sollten wir es bei der nächsten Bundestagswahl einfacher gestalten und anstelle von Parteien direkt Koalitionen wählen. Dann wäre alles schnell entschieden, und am Ende hätten die wirklich weltbewegenden Themen wieder Platz auf den Titelseiten.

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