Gefühlsblinde empfinden weder Trauer noch Freude. Für ihr Umfeld ist dieser Gleichmut schwer zu ertragen. Erst allmählich kommen Neuropsychologen den Ursachen dieses Verhaltens auf die Spur. Zehn Prozent der Bevölkerung sind angeblich betroffen. Ob man ihnen helfen kann, weiß niemand.

Gefühlsblinde empfinden weder Trauer noch Freude.
Knapp 30 Jahre später sitzt das Ehepaar Hannes und Rita Roth (Namen von der Redaktion geändert) in einem Therapieraum der Münchner Uniklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. In einem raumhohen Regal an der Wand stapeln sich Fachbücher; unter der Decke hängen gleich zwei Videokameras, denen keine Regung eines Therapiegesprächs entgeht. Die Roths erzählen von ihrer gemeinsamen Zeit – die Jahre, nachdem ihre erste Tochter Maja zur Welt gekommen war. Beide waren nicht ganz 20, als sie heirateten und in das kleine weiße Haus mitten im Dorf zogen. Rita Roth verhakt ihre Finger, wenn sie spricht, und lacht, als ob ihr nicht danach zumute wäre: Kaum Zuneigung hat ihr der Hannes all die Jahre gezeigt, sie nie in den Arm genommen. Nicht einmal aufs Faschingsfest wollte er mit ihr gehen. Nie war er mit den beiden Töchtern im Zoo – dabei hatten sie es sich so gewünscht. "Jeder Tag war für ihn ein Scheißtag", sagt sie. "Selbst wenn wir im Urlaub aufs Meer rausgeschaut haben, hat er noch gesagt: Schau mal, da unten der Müll in der Bucht." Tränen schießen ihr in die Augen: "Freude war ihm völlig fremd." Hannes Roth schaut mit leerem Gesicht auf die große Schnalle seines Harley-Davidson-Gürtels. Nach einer Pause sagt er leise: "Ich habe da nichts gespürt, das war halt alles nicht mein Ding."
Gefühlsblind