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Neuromorphes Rechnen: Computer nach Vorbild des Gehirns
Das Gehirn ist mit mehr als 100 Milliarden Nervenzellen das komplexeste Organ des Menschen – und die Grundlage für all unser Fühlen, Denken und Handeln. Dabei ist das Gehirn aber mehr als die Summe seiner Zellen und Verdrahtungen: Erst die komplexen Verschaltungen der Nervenzellen untereinander ermöglichen es uns, zu denken und zu lernen.
Dezentral und hochgradig anpassungsfähig
Während unserer Denkprozesse nimmt jede einzelne Nervenzelle Kontakt mit rund tausend, manche gar mit Millionen weiteren Zellen auf. Wollte man dieses natürliche Verhalten mit Computersystemen nachbilden, müsste man für jedes Signal jeder Nervenzelle mindestens tausend Nachrichten abschicken und an die zugehörigen Empfängerzellen verteilen. Hinzu kommt: Die Verknüpfung der Gehirnzellen ist nicht statisch, sondern ändert sich fortwährend. Jeden Tag werden in unserem Gehirn etwa zehn Prozent aller neuronalen Verbindungen aufgelöst und durch neue ersetzt – durch diesen Prozess kernen wird und bilden Erinnerungen.
Während in Computern das Rechnen im Prozessor und damit getrennt vom Datenspeicher stattfindet, arbeitet unser Denkorgan integrativ: Das Zusammenspiel der Neuronen über ihre Synapsen und die Plastizität dieser Verbindungen sind Rechner und Datenspeicher in einem.
„Diese einzigartige Struktur macht das Gehirn so energieeffizient“, erklärt Harish Bhaskaran von der University of Oxford. „Die Entwicklung von Computern, die mehr wie unser Gehirn arbeiten, ist daher seit Jahrzehnten eine Art heiliger Gral.“
Algorithmen nach Gehirnvorbild gibt es schon, jetzt soll die Hardware folgen
Wie aber kann man das auf künstliche Systeme übertragen? Einen ersten Anfang haben KI-Systeme in Form neuronaler Netzwerke gemacht. Diese Algorithmen nutzen ein mehrlagiges System aus Verzweigungsknoten, die dem Aufbau der neuronalen Verschaltungen im Gehirn nachempfunden sind. Diese Systeme lernen, indem sich die Struktur ihrer Knoten und Entscheidungswege im Laufe des Trainings anpasst: Erfolgreiche, korrekte Entscheidungen führen zur Stärkung der entsprechenden Knoten, falsche Verbindungen werden abgewertet.
Doch das sogenannte neuromorphe Rechnen geht noch einen Schritt weiter: Mit ihm wollen Forscher das komplette Wissen über die Funktion des natürlichen Nervensystems auch auf die Hardware künstlicher neuronaler Systeme übertragen. Das bedeutet, dass auch die Funktionsweise biologischer Strukturen wie der Synapsen – der Verbindungsstellen zwischen zwei Nervenzellen - möglichst unmittelbar durch elektronische Schaltungen nachgebildet werden sollen.
Künstliche Synapse aus Kristall
Einen ersten Durchbruch solcher biologisch inspirierter Hardwaresysteme haben Bhaskaran und seine Kollegen vor einigen Jahren erzielt. Sie haben eine photonische Synapse konstruiert, die in optische Computerchips integriert werden kann. Die künstliche Synapse besteht aus einen Material, das im Ruhezustand kristallin vorliegt. Durchlaufen nun jedoch optische Signale in Form von Laserpulsen diesen Kristall, verändert sich seine Struktur. Das wiederum beeinflusst, wie gut die Signale weitergleitet werden.
Der Clou dabei: Durch diese Anpassung an die Intensität der optischen "Reizung" passt sich diese Synapse von selbst daran an, wie oft und intensiv sie genutzt wird. Ähnlich wie die Verbindungsstellen in unserem Gehirn wird diese photonische Synapse umso effektiver und leitfähiger, je stärker sie genutzt wird.
Nano-Magnete als Synapsen-Ersatz
Eine weitere Variante künstlicher Synapsen haben Forscher um Michael Schneider vom National Institute of Standards and Technology (NIST) im Jahr 2018 vorgestellt. Ihre Synapse funktioniert nicht optisch, sondern auf Basis von Magnetpartikeln. Das Bauteil ist nur rund zehn Mikrometer klein und ähnelt einem dreilagigen Sandwich: Zwischen zwei Schichten aus supraleitendem Material liegt eine Sperrschicht aus Silizium, in die Nanocluster aus Mangan und Niob-Elektroden eingebettet liegen.
Die Nanocluster verhalten sich wie winzige Stabmagneten. Im Ausgangszustand liegen sie ungeordnet in der Sperrschicht, ihre Spins zeigen in verschiedene Richtungen. Werden sie Nanocluster nun jedoch Magnetpulsen ausgesetzt, ändert sich ihre Anordnung: Je mehr Pulse sie erhalten, desto stärker ordnen sich die Spins der Nanocluster. Als Folge sinkt der Schwellenwert der Magnetpulse, ab der die Synapse ein Signal weiterleitet – sie reagiert immer sensibler und leichter auf die Reize.
„Das Bauteil verhält sich damit von Natur aus wie eine künstliche Synapse, die mit elektrischen Pulsen interagiert“, erklärt Schneider. Je intensiver diese Synapse genutzt wird, desto geringer wird ihre Schwelle. Dadurch wird dieser Signalweg des Computers gestärkt und das Netzwerk der Hardware passt sich so im Laufe der Zeit an die Erfahrungen an. „Damit haben wir ein synaptisches Element für neuromorphe Computer der Zukunft“, so die Forscher.
Von der einzelnen Synapse zum Netzwerk
An der Universität Heidelberg arbeiten Wissenschaftler bereits daran, künstliche Synapsen zu Netzwerken zusammenzuschalten. Ihr System soll eines Tages bis hin zu einer Billion Verbindungen möglich machen. Damit ließe sich das Lernen von komplexen Funktionen erproben, zum Beispiel von Bewegungsabläufen humanoider Roboter.
Trotz dieser ersten Fortschritte steht die Forschung zu neuromorphen Computer allerdings erst ganz am Anfang. Einen Roboter oder Computer mit einem echten Nachbau unseres Gehirns wird es daher auch auf absehbare Zeit wohl noch nicht geben.