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Selbstoptimierung – wie viel ist genug?

Effektiver arbeiten, mehr leisten! Noch schneller werden, noch fitter! Wir arbeiten alle ständig an unserer Selbstoptimierung – in der Hoffnung, bessere, gesündere und glücklichere Menschen zu werden. Wer will schon nicht gesünder, fitter, kompetenter, kreativer, erfolgreicher oder glücklicher sein? Aber sollte nicht auch irgendwann Schluss sein mit der Optimierung? Woher kommt der Drang nach Verbesserung? Und lohnt sich der Aufwand überhaupt?
THE, 11.01.2024
Joggerin mit Fitnesstracker

© gpointstudio, ThinkstockPhotos

Um fünf Uhr morgens klingelt mein Wecker. Draußen ist es noch dunkel, aber der frühe Vogel fängt den Wurm! Ich hüpfe aus dem Bett und unter die Dusche. Eiskaltes Wasser sprüht mir über den Kopf. Das ist unangenehm, aber ich bin sofort hellwach. Außerdem: Kaltes Wasser stärkt das Immunsystem, hebt die Laune und regt den Stoffwechsel an. Danach meditiere ich für 20 Minuten, denn wer meditiert, lebt bewusster, ist glücklicher und kann sich besser konzentrieren. Zum Frühstück gibt es Spinat-Grünkohl-Chia-Shake. Grünkohl ist schließlich reich an entzündungshemmenden Antioxidantien – die senken das Krebsrisiko.

So oder so ähnlich sieht die Morgenroutine  aus, die uns zu fitten, leistungsfähigen und gesunden Menschen machen soll. Nicht wenige von uns folgen diesen Ratschlägen, denn der Drang, noch gesünder, noch schöner, noch produktiver zu sein ist allgegenwärtig. Dabei ist dieser Lifestyle ganz schön stressig. Stellt sich die Frage: Warum tun wir uns das an?

Gesund, produktiv und glücklich?

„Weil es sich lohnt“, würden einige jetzt antworten: „Sport und gesundes Essen sind gut für dich.“ Recht hätten sie damit: Wer gesund isst, wenig raucht und sich regelmäßig bewegt, lebt länger und wird seltener krank. Das zeigen auch zahlreiche Studien: Wer das Rauchen aufgibt, steigert seine Lebenserwartung um bis zu zehn Jahre, 15 Minuten Spazierengehen pro Tag können drei zusätzliche Lebensjahre bescheren. Dazu kommt: Ein gesunder Lifestyle ist nicht nur gut für den Körper, er macht auch glücklich. Wenn wir regelmäßig Sport treiben, stoßen wir Glückshormone aus und es geht uns schlagartig besser. Wer dieses Jahr den Neujahrsvorsatz hatte, regelmäßig joggen zu gehen, kann ein Lied davon singen.

Außerdem wird man durch das gesunde Leben und zahlreiche Tools und Tricks produktiver. So kann man beispielsweise seine Arbeitszeit mit der eigenen produktivsten Zeit abstimmen: Manche Menschen können sich morgens besonders gut konzentrieren, andere nachmittags. Arbeitet man in den Zeiten höherer Konzentration, schafft man mehr Aufgaben in der gleichen Zeit. Aber woher kommt die Sucht nach gesteigerter Effizienz, größerer Gesundheit und mehr Glück?

Das optimierte Selbst

Ein Grund für den Optimierungswahn ist, dass wir in unserer Gesellschaft andauernd mit anderen im Wettbewerb stehen. Wer produktiver ist, macht Karriere, wer sportlicher ist, findet attraktivere Partner und wer besser gelaunt ist, hat mehr Freunde – jedenfalls laut gängiger Annahme. Wer nicht mitzieht, arbeitet dagegen bald am Fließband, ist dick, unglücklich und einsam, so die Logik.

Um nicht abgehängt zu werden, strengen wir uns also ständig an: Sei eine produktive Mitarbeiterin, reise und mache Erfahrungen im Ausland, baue deine Kompetenzen aus, pflege soziale Beziehungen, halt dich fit, hab Spaß in deiner Freizeit, gönne dir aber auch Ausgleich und Entspannung.

Das Problem ist, dass die Optimierung endlos ist, denn es gibt immer eine nächste Stufe zu erreichen. Nach jahrelangen Klettern und ständiger Arbeit am leistungsfähigen, fitten Selbst ist man irgendwann vielleicht optimiert, aber auch gestresst und überfordert. Und gestresste Menschen sind ironischerweise unglücklich, ungesund und leben kürzer. Selbstverbesserung scheint demnach ihre Grenzen zu haben. Aber wo liegen die?

Wo beginnt der Optimierungswahn?

Karl ist ein echter Stubenhocker. Er verlässt nie seine Wohnung. Der längste Weg, den er zurücklegt, ist der von der Haustür zum Briefkasten. Dieses Jahr hat er sich vorgenommen, etwas zu ändern: Ab Januar möchte er täglich 30 Minuten spazieren gehen. Ist das schon Optimierungszwang? Wohl kaum. Susi hingegen ist ein echter Fitnessfreak. Sie ermittelt täglich die ideale Dauer und Zusammensetzung ihres Workouts für die optimale Fettverbrennung und den maximalen Muskelaufbau. Auch ihre Mahlzeiten sind nur hierauf ausgelegt. Das klingt schon eher nach Optimierungswahn.

Die Grenzen zwischen Selbstverbesserung und Optimierungswahn sind jedoch fließend – und von Fall zu Fall unterschiedlich. Wenn ich meine Laufzeiten an der Fitnessuhr tracke, kann das  Spaß machen und beim Training weiterhelfen. Es kann aber auch krankhaft werden, wenn beispielsweise meine Gedanken nur noch darum kreisen, ob ich mein Soll erfüllt habe und die Optimierung zur Obsession wird. Im Extremfall kann dies dazu führen, dass ich mein Selbstwertgefühl nur noch aus dem Abarbeiten meiner Optimierungsroutinen beziehe.

Am besten hält man sich zwischen den Extremen auf. Es kann bereichernd und motivierend sein, einen Marathon zu laufen oder noch eine Weiterbildung zu absolvieren, doch wenn man unter permanentem Druck steht, sich verbessern zu müssen, ist das auf Dauer belastend. Spätestens, wenn man durch die ständige Anstrengung negative körperliche und psychische Konsequenzen spürt, ist es vielleicht doch Zeit, sich mit einer Tüte Chips aufs Sofa zu legen.

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