wissen.de Artikel

Voller Hindernisse

In einem Land, in dem seit zwei Jahrzehnten ein Rollstuhlfahrer Bundesminister ist, sollte es auch für andere Menschen mit Behinderung recht einfach sein, gleichberechtigt am Arbeitsleben teilzunehmen. Aber ist das wirklich so? Eine Bestandsaufnahme zum Internationalen Tag der Behinderten.
von wissen.de-Autorin Susanne Böllert, Dezember 2012

Christian Kern wäre heute Papiermacher - wenn dieser 13. November nicht gewesen wäre. Er war 15, hatte eben seine Lehre in der großen Dachauer Papierfabrik begonnen. Da bereitete ein Autounfall seinem bisherigen Leben ein jähes Ende. An jenem Novembersonntag vor 35 Jahren brach das Rückgrat des Jungen. Kern sollte nie wieder gehen können. Ein handwerklicher Beruf im Rollstuhl? Unmöglich. „Aber arbeiten wollte ich immer“, sagt Kern.

Auf Vermittlung des Arbeitsamtes kam er damals in ein Berufsförderungswerk, wo er die meiste Zeit im Internat lebte. Das habe ihm geholfen, trotz Behinderung selbstständig zu werden. Die Kosten für die Umschulung zum Industriekaufmann übernahm das Amt. Ein Glücksfall für einen Behinderten wie ihn? Der 50-Jährige ist skeptisch: „Es liegt ja im Interesse des Arbeitsamtes, dass Menschen mit Behinderung auf den Arbeitsmarkt integriert werden. Sonst müssten ja hohe Renten gezahlt werden.“

 

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden

Tatsächlich ist seit 2001/ 2002 die Förderung der Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung das erklärte Ziel der deutschen Behindertenpolitik. Damals wurden das Behindertengleichstellungsgesetz sowie das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) erlassen, die rechtlichen Grundlagen, um Artikel 3 des Grundgesetzes zu verwirklichen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ 2007 folgte die UN-Konvention zum Schutz der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderung, die forderte, dass diese „Menschen nach ihren Fähigkeiten, Leistungen und Interessen gefördert werden“ sollen.

Behindertengerechter Arbeitsplatz
shutterstock.com/Gina Sanders
In Deutschland, das die Konvention als eines der ersten Länder ratifizierte, sollten nicht mehr nur Fürsorge und Versorgung im Mittelpunkt stehen, sondern Rehabilitation und Teilhabe am gesellschaftlichen und am Arbeitsleben. Konkret festgelegt wurden im SGB IX Ansprüche wie unterhaltssichernde Maßnahmen, aber auch Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation. So steht auch in den Berufsbildungswerken für Jugendliche mit Behinderung sowie in den Berufsförderungswerken für behinderte Erwachsene die Integration in den Ersten Arbeitsmarkt an erster Stelle. In der Theorie. Wie anders die Praxis aussieht, weiß Hubert Hüppe. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung erklärt: „Behinderte Menschen machen ihre berufliche Ausbildung häufig nicht in Betrieben, sondern in außerbetrieblichen Einrichtungen und das erschwert ihnen später den Einstieg in den Beruf.“

Dass Christian Kern heute auf 35 Jahre Berufsleben zurückschauen kann, hat er jedenfalls eher einem verantwortungsvollen Arbeitgeber zu verdanken als seiner Ausbildungseinrichtung. „Mein alter Chef aus der Papierfabrik hat mich damals bei der betriebseigenen Krankenkasse untergebracht, der meinte, das würde gut passen“, schildert Kern, der „am liebsten bis 70 arbeiten würde“.  Wohl auch, weil seinem Arbeitgeber die Integration des Rollstuhlfahrers vorbildlich gelingt: So wurde der Versicherungsfachangestellte in die Planung des neuen Verwaltungsgebäudes vor zwei Jahren von Anfang an einbezogen. Mit Türverbreiterungen, Behindertentoilette und eigenem Carport ist Kerns ganz persönliche Barrierefreiheit am Arbeitsplatz gewährleistet. Ein Idealfall, wie ihn nur wenige Betriebe hinbekommen.

Denn beim Versuch, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, scheiterten viele Arbeitnehmer an unflexiblen und bürokratischen Unterstützungsleistungen, kritisiert Hubert Hüppe zehn Jahre nach der Sozialreform. Dabei sei die ausreichende Schaffung von behindertengerechten Arbeitsplätzen angesichts des absehbaren Fachkräftemangels auch für kleinere und mittelständische Unternehmen ökonomisch sinnvoll. Helfen könnten, so Hüppe, ein einziger Ansprechpartner für alle Fragen zur Integration des behinderten Mitarbeiters, vom Umbau des Arbeitsplatzes bis zu Lohnkostenzuschüssen, sowie individuell abrufbare, nicht wie bisher an Einrichtungen gebundene Förderleistungen.

 

Einmal Werkstatt – immer Werkstatt

Dann hätte vielleicht auch jemand wie Bernd Brämer eine Chance. Seit 30 Jahren werde er in Behindertenwerkstätten „geparkt“, erklärt der Bochumer, der an einer hauptsächlich die Beine betreffenden Spastik leidet. Chancengleichheit sei schon angesichts eines „Taschengelds“ von 183 Euro für seine Werkstattarbeit nicht gegeben. Auch die Erwerbsminderungsrente, die ihm aufgrund seiner Behinderung seit zehn Jahren zusteht, ändert nichts daran, dass er stets auf Unterstützung seiner Mutter angewiesen war.

Nach dem Hauptschulabschluss kam er in eine Werkstatt für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung. Dank einer Sondergenehmigung konnte er sieben Jahre später in eine Werkstatt für seelisch Erkrankte wechseln. „Da ist das intellektuelle Niveau höher“, erklärt Brämer, der sich viele Jahre in der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen engagierte. Schon lange kritisiert er die Werkstätten als Sackgasse: „Einmal Werkstatt, immer Werkstatt. Dabei könnte jeder Dritte oder Vierte auf dem Ersten Markt eingegliedert werden.“ Dass das aber keinesfalls so sei, liege an der mangelnden Qualifizierung in den Werkstätten. „Außer Montage, Metallverarbeitung und Hauswirtschaft wird nichts angeboten. Von ‚Berufsbildungsbereich‘ kann keine Rede sein.“  Ohne eine klare Ausbildungsoffensive würden die Werkstätten ihr Ziel, Menschen mit Behinderung in sozialversicherungspflichtige Jobs zu bekommen,  jedenfalls nicht erreichen.

Der Behindertenbeauftragte Hüppe sieht das ähnlich: „Durchschnittlich gelingt nur einem von 100 behinderten Menschen der Wechsel von dort in den ersten Arbeitsmarkt.“

Brämer selbst kämpft entschlossen darum, der Werkstatt den Rücken zu kehren. Nachdem es ihm Anfang 2012 gelungen ist, bei einem Bochumer Magazin ein Praktikum zu machen, schreibt er immer wieder Artikel, die es auf die Seite 1 schaffen. „Ich komme dank meiner Behinderung viel besser an die Menschen ran“, beschreibt Brämer seinen Vorteil. Ob aber aus der Anstellung als Journalist wirklich etwas wird? Brämer zweifelt: „Ich bräuchte eine Sondergenehmigung für eine Arbeitsassistenz, jemanden, der meinen Laptop trägt, meine Mitschnitte abschreibt. Doch der Leistungsträger hat nicht einmal die Fahrtkosten zum Praktikumsplatz gezahlt, weil im Moment keine Chance auf Anstellung besteht.“

Schicksale wie das von Bernd Brämer zeigen, dass das Land mit dem Rollstuhl-Minister noch einen weiten Weg vor sich hat, bis Chancengleichheit und Teilhabe für Menschen mit Behinderung die Regel bilden.

Mehr Artikel zu diesem Thema

Weitere Lexikon Artikel

Weitere Artikel aus dem Wahrig Synonymwörterbuch

Weitere Artikel aus dem Wahrig Fremdwörterlexikon

Weitere Artikel aus dem Bereich Gesundheit A-Z

Weitere Artikel aus dem Wahrig Herkunftswörterbuch