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Warum ist Karneval politisch?
An Karneval nehmen Narren und Jecken Politiker auf die Schippe und kritisieren die Regierung in Form von Reden und Skulpturen sowie Uniformen und Kostümen. Inzwischen kommentieren auch Politiker selbst in Büttenreden das politische Geschehen, beispielsweise die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die bis 2020 im saarländischen Karneval regelmäßig als „Putzfrau Gretl“ auftrat.
Endlich wieder närrisches Treiben
Auf diese Weise wird Karneval schon seit Jahrhunderten gefeiert. Die Büttenrede geht sogar auf das sogenannte „Rügerecht“ im Mittelalter zurück, bei dem das Volk die Herrscher zur Fastnachtszeit kritisieren konnte, ohne eine Strafe fürchten zu müssen.
So richtig politisch wurde er jedoch erst nach der Eingliederung des Rheinlands in den Staat Preußen nach dem Wiener Kongress 1815. Zuvor verboten die französischen Truppen das närrische Treiben weitgehend. Ab 1804 erlaubten sie immerhin wieder kleinere Feiern, doch der Straßenkarneval war nahezu ausgestorben.
Im Jahr 1822 beschlossen einige Kölner, „dem Carneval eine edlere, den gegenwärtigen Zeitverhältnissen entsprechendere Form zu geben, ihn geistig aus seiner Versunkenheit wieder emporzuheben, ihn gleichsam poetisch zu gestalten“, wie Christian Samuel Schier, einer der Beteiligten, festhielt. Um ein Jahr später den ersten Rosenmontagsumzug zu organisieren, gründeten sie die „Grosse Karnevalsgesellschaft“.
Auf dem ersten Rosenmontagsumzug bestieg der Kölnisch-Wasser-Fabrikant Emanuel Ciolina Zanoli als „König Karneval“ den Thron und kritisierte so bereits die damals bestehende Herrschaftsordnung. Aus den 10.000 Zuschauern auf dem ersten Umzug wurden im folgenden Jahr 50.000.
Öffentliche Kritik verboten?
Mit der steigenden Beliebtheit des Kölner Karnevals in den 1820er Jahren stieg auch seine Kommerzialisierung: Händler verkauften Karnevalsbriefpapier und verschiedene Erinnerungsstücke sowie die typische Narrenkappe. Sie diente nicht nur als Eintrittskarte für die Festveranstaltungen, sondern auch als Symbol für die Gleichheit und Eintracht aller Narren, und erinnerte damit an die Idee der Gleichheit aller Bürger der französischen Revolution.
Der Karneval entwickelte sich zu einem indirekten politischen Sprachrohr in immer mehr Städten, da offene Kritik an der preußischen Regierung kaum möglich war. So kritisierte 1829 der Kölner Polizeipräsident Georg Karl Philipp von Struensee die Kölner Karnevalszeitung: „Das Witzblatt enthielt zahlreiche ernstgemeinte Anspielungen – zuletzt die Forderung nach einer Verfassung – und war nach objektiven Gesichtspunkten nicht zu zensieren“, schreibt das Portal Rheinische Geschichte.
Nachdem von Struensee die Zeitung verboten hatte, sagten der Karnevalspräsident und das Karnevalskomitee den Rosenmontagszug ab, verteilten Totenzettel auf den Karneval und legten „Hanswurst“ in Ketten.
Jeder wird durch den Kakao gezogen
„Neben solchen aufsehenerregenden Aktionen ließen sich politische Implikationen in Büttenreden, Liedern und Gedichten aufspüren“, heißt es im Portal Rheinische Geschichte. „Sie wurden auf den Straßen gesungen, in der überregionalen Presse diskutiert und weckten das Interesse des preußischen Staatsoberhaupts.“
Friedrich Wilhelm III. – seinerzeit preußisches Staatsoberhaupt – interessierte 1827 „welche Behörde in neuerer Zeit die Erlaubniß [sic] zu diesen in Deutschland nicht üblichen Volksbelustigungen gegeben habe“. Die Verwaltungsbehörden der rheinischen Karnevalshochburgen Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Köln und Trier versuchten daraufhin, ihre politischen Scherze als moralisch völlig unbedenklich abzutun. Sie betonten, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die Kirche und die Narren selbst Zielscheibe satirischer Verballhornungen wurden.
Närrische Kleidung als Politikum
Besonders im Fokus des politischen Karnevals stand jedoch seit jeher das Militär. Die Veranstalter der ersten Karnevalsumzüge waren auf die Pferde, Fuhrwerke und Ausrüstungen des örtlichen Militärs angewiesen und bedienten sich für ihre Kleidung aus dem Fundus der französischen Militärausrüstung. „Ihr öffentliches Auftreten konnte daher sowohl als positive Reminiszenz an vergangene Zeiten oder aber als antifranzösische Satire interpretiert werden“, erklärt das Portal Rheinische Geschichte.
Die als karnevalistische Garde fungierenden Roten Funken des Kölner Karnevals sollten an die Stadtsoldaten und somit an die einstige Autonomie der Stadt erinnern. Die Uniformen und hierarchische Ordnung vieler Karnevalsinstitutionen sollen zudem alte preußische Traditionen aufs Korn nehmen. Die jährlich wechselnde Narrenkappe nahm mal die Form der preußischen Pickelhaube und mal die Form der Jakobinermütze an – eine Mütze, die Vertreter der politischen Linken während der französischen Revolution trugen.
„Der Interpretationsspielraum solcher Beobachtungen war groß und lag im Auge des Betrachters“, sagt das Portal Rheinische Geschichte. Da die Menschen die Symbole wie die wechselnde Narrenkappe sowohl als Kritik als auch als nostalgische Erinnerung deuten konnten, bot der Karneval eine indirekte Möglichkeit zur politischen Positionierung und Meinungsäußerung.