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Ägypten: Auf der Suche nach einer versunkenen Metropole
Den Überlieferungen zufolge lag die ägyptische Hafenstadt Thonis-Herakleion einst am westlichsten Arm des Nils, dem heute verlandeten Kanopus-Arm. Die von Kanälen durchzogene Stadt war in der Spätzeit der pharaonischen Ära Ägyptens wichtigste Verbindung zum Mittelmeer und einer der größten Häfen im gesamten Mittelmeerraum. Herakleion war jedoch auch von großer religiöser Bedeutung: In ihr lag ein wichtiger Tempel des Amun-Gereb, einer Variante der ägyptischen Haupt-Gottheit.
Herakles und die schöne Helena
Sogar in den griechischen Sagen spielt die Hafenstadt an der Nilmündung eine Rolle. So sollen die schöne Helena von Troja und ihr Geliebter Paris nach ihrer Flucht aus Troja in dieser Stadt Zuflucht gesucht haben, gastfreundlich beherbergt von einem ägyptischen Adeligen. Dem Geschichtsschreiber Diodorus zufolge könnte sogar der Göttersohn Herakles hier eine seiner Wundertaten vollbracht haben: Als der Nil über die Ufer trat und die rasenden Wassermassen das umliegende Land überfluteten, war es Herakles, der die Fluten bändigte und den Nil in sein ursprüngliches Bett zurückzwang – so die Legende.
Doch wo lag diese sagenumwobene Stadt? Den Überlieferungen nach müssten ihre Ruinen irgendwo an der Bucht von Abukir liegen, östlich der Stadt Alexandria. Aber so gründlich Archäologen dort auch nach den Spuren Thonis-Herakleions suchten, so vergeblich war dies. Die einst so bedeutende Stadt schien wie vom Erdboden verschluckt. War sie vielleicht doch nur eine Legende?
Spurensuche unter Wasser
Um diese Frage zu klären, haben sich Unterwasserarchäologen um Frank Goddio vom Europäischen Institut für Unterwasserarchäologie (IEASM) an einem ganz neuen Ort auf die Suche gemacht: unter Wasser. Seit 1992 erkunden und kartieren sie mithilfe modernster Technik den Meeresgrund in der Bucht von Abukir – unter teilweise erschwerten Bedingungen: „Die Bucht von Abukir ist nicht gerade ein Taucherparadies. Die Sichtweite für uns beim Tauchen liegt manchmal nur bei Zentimetern statt bei Dutzenden Metern wie anderswo im Mittelmeer“, schildert Goddio die Schwierigkeiten.
Vor gut 20 Jahren zahlt sich die mühsame Suche aus: Die Unterwasserarchäologen entdecken eine riesige Ansammlung von im Sediment verborgenen Ruinen und Artefakten. Unter den Funden sind riesige Steinblöcke einer 150 Meter langen Mauer, ein großes rechteckiges Wasserbecken aus rotem Granit und zahlreiche Amulette, Bronzestatuetten und große Statuen von Königen und Göttern. 2001 entdecken Goddio und sein Team dann einen entscheidenden Hinweis: einen rechteckigen Schrein aus Granit, der den Inschriften zufolge einst dem Gott Amun-Gereb geweiht war – wie der Haupttempel der verschollenen Stadt Thonis-Herakleion.
Weitere Funde bestätigen es: Die Unterwasserarchäologen haben endlich Ägyptens alte Hafenstadt gefunden – versunken in den Fluten des Mittelmeeres. Wie riesig Thonis-Herakleion einst war, lässt sich bisher nur erahnen. "Wir haben bisher erst rund fünf Prozent von Herakleion erkundet", sagt Goddio. Er schätzt die Gesamtgröße der versunkenen Hafenstadt auf etwa das Dreifache der Fläche von Pompeji.
Warum ist Thonis-Herakleion versunken?
Aber warum ist die Stadt im Meer versunken? Thonis-Herakleion existierte immerhin mehr als 1.400 Jahre lang, von rund 600 vor Christus bis 800 nach Christus. Selbst nach Gründung Alexandrias nur wenige Kilometer westlich behielt Herakleion seine Bedeutung als Seehafen zunächst bei. Doch im Jahr 150 v. Chr. kam es zu einer ersten Katastrophe: "Ein Erdbeben löste einen Tsunami aus, der den größten Teil der Stadt zerstörte", berichtet Goddio. Die Erschütterungen weichten den schlammigen Untergrund auf und ließen Gebäude versinken und Mauern kollabieren. Für die Hafenstadt war dies der Beginn des Niedergangs.
Als wäre dies nicht genug, kam es im Jahr 800 unserer Zeit zu einer zweiten großen Katastrophe: "Zu dieser Zeit ereignete sich ein zweites schweres Erdbeben, das die Stadt vollständig zerstörte", berichtet Frank Goddio. Die Erschütterungen, kombiniert mit Flutwellen und einer erneuten Bodenverflüssigung ließen auch den Rest von Thonis-Herakleion und große Teile der benachbarten Küste endgültig in den Fluten des Mittelmeeres versinken. Seither liegen ihre Überreste verborgen unter zehn Metern Wasser und rund zwei Metern Schlamm und Sand in der Bucht von Abukir.