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Bäume wachsen anders als man denkt
Ob in den Tropen, in gemäßigten Breiten und sogar bis in den hohen Norden: Bäume gibt es fast überall auf der Erde. Mehr als drei Billionensolcher Gehölze wachsen auf unserem Planeten. Den Größenrekord halten dabei die gewaltigen Küstenmammutbäume an der Westküste der USA. Diese Baumriesen können bis zu 115 Meter hoch werden und einen Durchmesser von sieben Metern erreichen. Den dicksten Stamm hat dagegen eine mexikanische Sumpfzypresse: Ihr Stammumfang liegt bei 46 Metern.
Höher und dicker zugleich
Aber wie wächst ein Baum eigentlich? Entscheidend dafür sind Wachstumszonen in gleich zwei Bereichen dieser Pflanzen. Vor allem für das Höhenwachstum und die Volumenzunahme der Krone zuständig sind die Zweigspitzen. In ihnen liegt das Apikalmeristem, ein spezielles Gewebe aus noch undifferenzierten Zellen. Diese teilen sich und bilden unter dem Einfluss bestimmter Pflanzenhormone wie dem Auxin neue Triebe und Blätter.
Parallel dazu muss der Baum aber auch am Stamm und den älteren Ästen an Umfang zulegen, sonst würde er schnell instabil werden und abknicken. Zudem verlaufen in den verholzten Pflanzenteilen die Leitungen, die Wasser und Nährstoffe von der Wurzel bis in die Blätter leiten. Für das Dickenwachstum des Stammes ist das Kambium zuständig, eine dünne Zellschicht zwischen dem Holz und der Rinde. Die Kambiumzellen teilen sich und geben dabei nach außen hin neues Rindengewebe ab, nach innen hin entstehen neue Holzzellen.
Klar ist auch, dass der Baum für die Produktion der neuen Zellen und Gewebe entsprechende Rohstoffe benötigt. Ein Teil davon, in Form von Wasser und den in ihm gelösten Nährstoffen erhält er über die Wurzeln aus dem Boden. Für die organischen Verbindungen, aus denen das Stützgewebe besteht, sind außerdem Moleküle nötig, die durch die Photosynthese in den Blättern produziert werden – so weit so bekannt.
Bäume beim Wachsen "belauscht"
Ausgehend von diesen Grundlagen könnte man meinen, dass der Baum immer dann wächst, wenn er genug Licht für die Photosynthese hat und aus dem Boden ausreichend Wasser ziehen kann. Wäre das der Fall, müssten Bäume vor allem tagsüber wachsen und während der gesamten Vegetationsperiode. Aber stimmt das überhaupt? Wann ein Baum tatsächlich wächst, haben Forscher um Roman Zweifel von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL erst kürzlich erstmals genauer untersucht.
Dafür rüsteten die Wissenschaftler Bäume an 50 Standorten in der Schweiz mit speziellen Sensoren aus. Diese Punkt- Dendrometer zeichnen das subtile An- und Abschwellen der Baumrinde auf, das von der Wasserversorgung des Baumes abhängt. Sie registrieren aber auch die darunterliegende Dickenzunahme durch das Wachstum des Baumes. Mithilfe dieser am Stamm sitzenden Geräte haben Zweifel und sein Team acht Jahre lang stündlich registriert, ob und wie schnell Buchen, Eichen, Fichten, Kiefern und anderen heimische Baumarten wachsen.
Wachstum nur nachts und an wenigen Tagen im Jahr
Das überraschende Ergebnis: Bäume wachsen keineswegs kontinuierlich und tagsüber, sondern nur wenige Stunden pro Tag – und diese liegen vorwiegend in der Nacht. So legt beispielsweise die Rotbuche gegen 01:0 Uhr nachts am meisten zu. Andere Baumarten wachsen erst zwischen 02:00 Uhr nachts und 06:00 Uhr morgens. Mittags und am Nachmittag tut sich dagegen kaum etwas. Das bedeutet: Bäume wachsen nicht im Hellen, sondern vorwiegend im Dunkeln – sie sind gewissermaßen nachtaktiv.
Und nicht nur das: Die Wachstumsphasen verteilen sich auch nicht über die gesamte Vegetationsperiode von Frühjahr bis Herbst, wie man annehmen könnte. Die Messungen ergaben stattdessen, dass ein Baum je nach Art nur 15 bis 30 Tage im Jahr überhaupt wächst. Am wenigsten Wachstumsstunden haben dabei Eiche und Kiefer, am meisten Rotbuche und Tanne.
Die Luftfeuchtigkeit ist entscheidend
Was aber begrenzt das Wachstum der Bäume? Und warum legen sie nur nachts zu? Um das herauszufinden, nahm das Team die begleitend erhobenen Klimadaten näher in Augenschein. Es zeigte sich: Entgegen früheren Annahmen spielen nicht Photosynthese und Bodenwassergehalt die entscheidende Rolle, sondern die Luftfeuchtigkeit. Das erklärt, warum die Bäume in der heißesten und trockensten Zeit des Tages am wenigsten wachsen – meist ist dann die Luft zu trocken. Sinkt die Luftfeuchtigkeit zu weit ab, verlieren die Bäume über ihre Blätter viel Wasser durch die Transpiration.
Dieses Defizit kann der Baum dann nicht mehr durch den Wassertransport aus den Wurzeln ausgleichen. Selbst wenn im Boden eigentlich genügend Wassernachschub vorhanden ist, schafft er es nicht mehr, das Nass schnell und reichlich genug nach oben zu ziehen. Das erklärt auch ein weiteres erstaunliches Phänomen: "Die größte Überraschung für uns war, dass die Bäume sogar in mäßig trockenen Böden wuchsen, sofern die Luft ausreichend feucht war. Umgekehrt blieb das Wachstum sehr gering, obwohl der Boden feucht, zeitgleich die Luft aber trocken war", berichtet Zweifel.
Relevant für Wälder im Klimawandel
Diese Erkenntnisse geben nicht nur neue Einblicke in das Wachstum der Bäume – sie haben auch große Bedeutung für die Anpassung der Wälder an den Klimawandel. Denn schon jetzt leiden viele Bäume unter zunehmender Hitze und Trockenheit und werden anfälliger für Schädlinge und Waldbrände. In Zukunft könnte sich das noch verschärfen – auch in Gegenden, die bislang als weniger gefährdet galten, wie die neuen Ergebnisse nahelegen.
Konkret könnte das bedeuten, dass in Zukunft nicht nur die Bäume leiden könnten, die in Regionen mit weniger Regen stehen. Auch dort, wo es zwar immer wieder mal regnet, aber die Luft trockener wird, könnte das Baumwachstum stocken. Wenn man dem Absterben der Wälder entgegenwirken will, muss man daher gezielt neue Baumarten anpflanzen, die weniger empfindlich auf Trockenheit reagieren – am Kopf und an den Füßen.