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Bildung: Gleiche Chancen für alle?
Selektion in frühester Jugend
In der Grundschule sind noch alle gleich – jedenfalls ungefähr. In den Klassen kommen alle Kinder aus der Nachbarschaft zusammen. Die Migranten des Stadtteils, die Sprösslinge von Hartz-IV-Beziehern, Bäckereifachverkäufern und Kfz-Mechanikern teilen mit den Ärztesöhnen und Anwaltstöchtern die Schulbank. Auch wenn Marie zu Hause praktisch seit ihrer Geburt die Nase in Bücher gesteckt hat, während Kevin sich noch nicht einmal allein anziehen kann – unser Schulsystem betrachtet die Kinder bis zum Ende von Klasse vier als „gleich genug“, um sie in einem Klassenraum zu unterrichten.
Nach Klasse vier beginnt die offizielle Selektion. In der Theorie sollen sich die Begabten ab Klasse 5 ungestört am Gymnasium auf ihre akademische Karriere vorbereiten, während die Zehnjährigen mit weniger erkennbarem intellektuellem Potenzial fortan an anderen Schulen auf einen Abschluss zusteuern, der ihnen den Weg in einen Ausbildungsberuf eröffnen soll.
Die Praxis sieht anders aus: Kindern gut verdienender Akademiker ist das Abitur so gut wie sicher, während diejenigen aus weniger privilegiertem Elternhaus viel seltener den Sprung an die Spitze schaffen. Das zeigt die im September 2012 vorgestellte Studie der OECD „Bildung auf einen Blick“: Nur knapp sechs Prozent der Studierenden in Deutschland stammen aus einem Elternhaus mit niedrigem Bildungsniveau.
Die Wahrscheinlichkeit, ein Studium aufzunehmen, liegt für Kinder weniger gebildeter Eltern bei etwa 40 Prozent, in Island oder der Türkei beispielsweise dagegen bei rund 70 Prozent. Und nur jedem Fünften in Deutschland gelingt es, ein höheres Bildungsniveau als seine Eltern zu erreichen (OECD-Durchschnitt: 37 Prozent), 22 Prozent erreichen am Ende sogar niedrigere Abschlüsse als ihre Eltern, während das im Durchschnitt der OECD-Staaten bei gerade einmal 13 Prozent der Fall ist. Damit ist Deutschland eins von nur drei Ländern in der OECD, in denen es von einer Generation zur nächsten mehr Bildungsabsteiger als ‑aufsteiger gibt.
Die unterschiedlichen Bildungsabschlüsse haben auch finanziell erhebliche Konsequenzen: Ein Studium bringt Männern in Deutschland durchschnittlich ein 71 Prozent höheres Einkommen, Frauen immerhin einen Einkommenszuschlag von 53 Prozent im Vergleich zu Berufstätigen mit Realschulabschluss.
Abschulen oder fördern?
Auch innerhalb der Schulen in Deutschland gibt es mehr Auf- als Absteiger: Auf einen Schüler, der zwischen Klasse 5 und 10 auf eine höhere Schulform – also etwa von der Realschule zum Gymnasium – wechselt, kommen zwei Absteiger. In Niedersachsen liegt das Verhältnis sogar bei 1:10. Zu diesem Ergebnis ist im Oktober 2012 die Bertelsmann-Stiftung in ihrer Studie „Schulformwechsel in Deutschland“ gekommen.
Das Problem mit den vielen Abwärtswechslern: Ihnen werden durch den Schulartwechsel nicht selten Berufswege verbaut. Außerdem ist der Abstieg ein bequemer Weg, die Lernschwierigkeiten der betroffenen Schüler aus dem Klassenraum zu verbannen, anstatt für mehr Förderung zu sorgen – eine Möglichkeit, die nur ein mehrgliedriges Schulsystem bietet. Entsprechend hohe Absteigerquoten hat die Studie in den Bundesländern festgestellt, die noch ein dreigliedriges Schulsystem pflegen.
„Ein Schulsystem darf nicht nur nach unten durchlässig sein“, mahnt Jörg Dräger, Bildungsexperte und Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung. „Abschulungen sind häufig noch pädagogische Praxis, viel zu selten wird hingegen geprüft, ob ein Schüler einen Aufstieg schaffen kann.“ Trotzdem sei die Schulstruktur allein laut der Studie nicht der entscheidende Faktor für mehr Chancengleichheit. Besonders komme es auf eine individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler an, so das Fazit der Studie. „Auf Abschulungen und Klassenwiederholungen kann man dann weitgehend verzichten“, erläutert Dräger.
Bildung, wenn das Geld fehlt
Auch wenn der Schulbesuch in Deutschland kostenlos ist – ganz umsonst ist Bildung nicht zu haben. Schulranzen, Klassenfahrten und Nachhilfestunden kosten Geld, noch mehr schlagen Bildungsangebote im privaten Bereich zu Buche, etwa Musikunterricht, Theaterbesuche oder Bücher. Kinder, deren Eltern all diese Kosten aufbringen können, sind schulisch klar im Vorteil. Allein schon das Vorhandensein von Büchern im Elternhaus wirkt sich positiv auf die Leistungen aus – zum Beispiel auf die Lesekompetenz, wie die PISA-Studie 2009 herausfand.
Um für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011 das so genannte „Bildungspaket“ entwickelt, das den 2,5 Millionen Kindern aus sozial benachteiligten Familien in Deutschland unter anderem die Teilnahme an Klassenreisen finanziert oder die Beiträge für Musikschulen oder Sportvereine bezuschusst. Aber der Erfolg ist mäßig: Die Anträge gehen nur schleppend ein, nach einem Jahr Bildungspaket hatte gerade einmal etwas mehr als die Hälfte der Berechtigten Leistungen beantragt, Vereinsbeiträge oder Nachhilfekosten werden besonders selten abgefragt. Zu kompliziert sei die Antragstellung, bemängeln Kritiker, zudem wüssten zum Beispiel Migranten oft gar nicht von den Angeboten.
Alles bleibt, wie es ist: Der Matthäus-Effekt
Eine Zusammenfassung der Lage: Kinder wohlhabender und gebildeter Familien haben von Anfang an einen Bildungsvorteil, erreichen deshalb leichter höhere Abschlüsse, verdienen am Ende mehr Geld – und können so ihrem Nachwuchs wiederum einen Startvorsprung ermöglichen. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang vom Matthäus-Effekt, abgeleitet von dem berühmten Satz aus dem Matthäus-Evangelium „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ Der Effekt gilt zum Beispiel für das Vorwissen, das Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern schon in der Grundschule mitbringen und das ihnen dabei hilft, aus den schulischen Lernangeboten mehr neues Wissen zu ziehen – ihren Vorsprung auszubauen.
Wie ließen sich die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem beheben? Diese Fragen diskutieren Politiker und Bildungsexperten seit Jahrzehnten. Die Empfehlungen von Fachleuten in Kürze: Mehr Geld für Bildungsmaßnahmen, mehr individuelle Förderung, weniger Armut – dann hätte Kevin vielleicht genau so große Chancen, später einmal seinen Traumberuf zu ergreifen wie Marie.