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Flucht vor der Roten Armee

Nach dem Ende des Dritten Reiches wollte kaum jemand etwas von den Verbrechen gewusst haben, die in deutschem Namen vor allem im Osten verübt worden waren. Dass das nicht ganz stimmen konnte, belegte ein kollektives Drama gegen Ende des Krieges, das es so ohne ein diffuses Schuldgefühl und ohne Ahnung, dass die Rache der Roten Armee wohl nicht ganz unbegründet sein könnte, nicht gegeben hätte.

Anders als im Westen, wo die Ankunft der Angloamerikaner nicht selten sogar herbeigesehnt und freudig begrüßt wurde, packte im Osten die Deutschen Panik beim Näherrücken der Front. Natürlich tat die deutsche Propaganda alles, diese Furcht zu schüren, hatte sie doch immer schon vor den „vertierten Untermenschen“ gewarnt.

Das allein aber war es nicht, was den Fluchtimpuls bei nahezu allen Betroffenen auslöste. Man wusste eben doch mehr, als öffentlich hatte zugegeben werden dürfen und als man sich selbst innerlich eingestand. Gewiss, das ganze Ausmaß der deutschen Gräuel war den wenigsten bekannt. Auch die Tatsache, dass die Russen mit über zwanzig Millionen Toten in diesem Krieg bei weitem die meisten Opfer zu beklagen hatten, konnte mangels Information noch keine Rolle spielen. Und doch stand außer Zweifel, dass von den Siegern aus dem Osten Schreckliches zu gewärtigen war.

“Rette sich, wer kann“
Wer irgend eine Möglichkeit sah, versuchte sich nach Westen abzusetzen. Das geschah zunächst individuell, fast noch “friedensmäßig“ bereits seit Herbst 1944, als die Russen an deutschen Ostgrenze standen und sie stellenweise bereits überschritten hatten. Es nahm aber die Ausmaße einer Volksbewegung an, als absehbar wurde, dass die deutschen Fronten auf Dauer nicht halten würden. Damit drohten die Menschen den Machthabern einen Strich durch die Widerstandsrechnung zu machen. Man hatte mit den Fotos von hingemordeten Deutschen in rückeroberten Orten fanatischen Durchhaltewillen wecken wollen und erlebte nun eine gemeine Haltung des „Rette sich, wer kann“. Ohne Bevölkerung und ausbeutbare Arbeitskräfte aber ließ sich der gewünschte Widerstand nicht organisieren, und so kam es seit Januar 1945 zu drakonischen Strafandrohungen gegen „Feiglinge“ und „Drückeberger“, die die Heimat in der Stunde Gefahr im Stich ließen. Man berief sich dabei auf einen Befehl Hitlers, nach dem jeder, der die deutsche Widerstandskraft zu schwächen versuche, „augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen“ sei.

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