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Griechenland: Der Alltag in Krisenzeiten

Der griechische Staat steckt tief in der Schuldenkrise. Drastische Sparauflagen sollen das Land vor dem Staatsbankrott bewahren. Ob der kleine Mittelmeerstaat in der Eurozone bleiben wird oder die Rückkehr zur Drachme droht, ist im dritten Jahr der Krise ungewisser denn je. Wie lebt es sich in Griechenland in dieser Ausnahmesituation?
Von wissen.de-Redakteurin Alexandra Mankarios

Griechische Flagge auf Santorin
istockphoto.com/Danielle Elliott

Eine Krise – viele Schicksale

Ein Schriftzug bestimmt in diesen Tagen das Straßenbild in Griechenlands Städten: Papierstreifen mit der leuchtend roten Aufschrift „ΕΝΟΙΚΙΑΖΕΤΑΙ“ – „Zu vermieten“ – prangen an den verwaisten Glasvitrinen unzähliger griechischer Geschäfte. Dahinter gähnende Leere. Die einstigen Pächter haben ihre Läden akribisch leergeräumt, alle Einbauten entfernt, nichts hinter den leeren Glasscheiben lässt erkennen, mit welchen Waren hier Handel getrieben wurde. Hinter den meisten dieser ΕΝΟΙΚΙΑΖΕΤΑΙ-Schilder verbergen sich ähnliche Schicksale. Erst sind die Kunden weggeblieben, dann reichte das Geld nicht mehr für die Miete, am Ende blieb nur noch die Schließung.

 

Hohe Steuern und kein Einkommen: Armutsrisiko steigt

Arbeitslosigkeit ist in Griechenland zu einem Massenphänomen geworden. 22,5 Prozent Arbeitslose meldete die griechische Statistikbehörde Elstat im April 2012 – 6,3 Prozent mehr als im April 2011, und auch damals war die Lage in Griechenland bereits dramatisch. Besonders hart sind die jungen Griechinnen und Griechen betroffen: Jeder zweite unter 25 Jahren hat keinen Job, obwohl viele gut ausgebildet sind.

Bettler in Griechenland
shutterstock.com/Ljupco Smokovski
Von der Arbeitslosigkeit in die Armut ist es im krisengeschüttelten Griechenland nur ein kleiner Schritt: Mit einem Arbeitslosengeld von maximal 360 € im Monat kommt man in Griechenland genauso wenig aus wie in Deutschland. 68 Prozent der Griechen seien von Armut bedroht, stellte die EU-Kommission im Juni in ihrem vierteljährlichen Bericht zur Beschäftigungssituation in Europa fest. Die Obdachlosenzahlen seien von 2009 bis 2011 um 25 Prozent auf 20.000 gestiegen, zunehmend treffe die Wohnungslosigkeit auch Menschen, die noch wenige Monate zuvor der Mittelschicht angehörten. Hinzu kommt, dass die Versorgung der Obdachlosen schlechter denn je ist, denn auch die Hilfsorganisationen müssen mit immer weniger Geld auskommen, um immer mehr Menschen mit Nahrung, medizinischer und psychologischer Hilfe zu versorgen.

 

Sparmaßnahmen gegen die Staatspleite

Vor allem mit Rücklagen aus der Zeit vor der Krise retten sich viele Griechen vor dem Abstieg in die Armut. Wer allerdings sein Geld in eine Immobilie investiert hat, muss neuerdings tief in die Tasche greifen: Eine Sondersteuer fordert seit 2011 von Immobilienbesitzern je nach Wohnlage und Einkommenssituation jährlich zwischen 50 Cent und 20 Euro pro Quadratmeter. Eine empfindliche Zusatzzahlung für manche griechische Familie, die zwar in den eigenen vier Wänden lebt, aber trotzdem mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum auskommen muss.

Die Immobilien-Sonderabgabe ist nur eine von mehreren Maßnahmen, die die leeren Staatskassen füllen sollen. Zahlreiche Freibeträge wurden herabgesetzt, Steuern erhöht, Solidaritätszuschläge erhoben, Renten gekürzt. Bereits 2010 stieg die Mehrwertsteuer auf 23 Prozent. Für Gutverdienende reicht es häufig, den Gürtel enger zu schnallen. Wer aber vorher schon wenig hatte, kämpft nun ums Überleben. Wie lange diese Ausnahmesituation noch anhält, kann niemand sagen. „Am Schlimmsten ist, dass wir überhaupt nicht wissen, wie es weitergeht“, erklärt Kostas, ein junger Hotelier auf der Ferienhalbinsel Chalkidiki.

 

Überlebensstrategien in der Krise

Blick über Thessaloniki
Alexandra Mankarios, Hamburg
Wie bewältigt man den Alltag in einem Staat, in dem alles teurer und gleichzeitig die Einkommenssituation immer schlechter wird? Eine Szene an einer Hauptverkehrsampel in Thessaloniki: Während die Autofahrer auf Grün warten, zieht ein ganzer Trupp von fliegenden Händlern an den Autofenstern vorbei und bietet Dienstleistungen oder Waren feil: Einer möchte gern die Windschutzscheiben putzen, der nächste bietet gekühlte Wasserflaschen aus einer zerknitterten Plastiktüte an, ein anderer verkauft Zeitungen, der vierte offeriert Lotterielose. Während sich noch vor wenigen Jahren vor allem Albaner durch improvisierte Straßenverkäufe über Wasser hielten, versuchen heute auch immer mehr Griechen, als fliegende Händler ein paar Euro zu verdienen.

Etwas besser hat es der 38jährige Wassili aus Thessaloniki getroffen. Zwar musste sein Chef dem Computerfachmann Ende 2011 kündigen. Gleichzeitig bot er ihm aber an, ihn schwarz weiter zu beschäftigen – so könne man die Sozialversicherungsbeiträge sparen, aber immerhin hätte er noch ein Einkommen. Ein Angebot, auf das sich Wassili sofort eingelassen hat, schließlich hat er erst kürzlich geheiratet und ist Vater einer kleinen Tochter. Dass der Staat nun keine Steuern auf sein Einkommen erheben kann, lässt Wassili völlig kalt. Wie viele seiner Landsleute steht auch er auf dem Standpunkt, dass es nicht seine Schuld ist, dass sich der Staat in die Krise gewirtschaftet hat. Auch Wassilis Frau Despina ist arbeitslos, seit sich das internationale Unternehmen, in dem die junge Betriebswirtschaftlerin als Abteilungsleiterin angestellt war, 2010 aus Griechenland zurückgezogen hat. Obwohl die gut ausgebildete Mutter händeringend nach einer neuen Anstellung sucht, hat sie bisher nichts gefunden. Jobs in ihrer gewohnten Einkommensklasse gibt es kaum, in niedrigeren Positionen will man sie nicht einstellen, weil sie dann möglicherweise schnell wieder weg wäre, sobald sie etwas Besseres findet.

 

Ein bisschen Genuss muss trotzdem sein

Wer es schafft, an den leerstehenden Ladengeschäften, den fliegenden Händlern und den Müllsammlern, die ihre Supermarkt-Einkaufswagen von Abfalleimer zu Abfalleimer rollen, vorbeizuschauen, erkennt trotz allem noch ein wenig vom alten Griechenland in den Straßen. Alte Männer sitzen diskutierend in den gemütlichen Alte-Männer-Cafés. An Thessalonikis schicker Meerespromenade schlürfen noch immer jede Menge gestylte junge Menschen den landestypischen kalten Kaffee „Frappé“. Viele Tavernen sind abends nach wie vor gut gefüllt.

Essen gehen trotz Krise? „Auch meinen Kunden geht es finanziell nicht so gut“, erzählt Sakis, der in einem Mittelklasse-Wohnviertel Thessalonikis eine kleine Taverne betreibt. „Aber so sind wir Griechen nun einmal: Wenn etwas Geld da ist, geben wir das gern für Ausgehen und gutes Essen aus, anstatt zu sparen – obwohl das vielleicht vernünftiger wäre.“ Dafür, dass man versucht, auch mit wenig Geld noch ein bisschen Genuss ins Leben zu bringen, gibt es in Griechenland sogar ein Sprichwort. „I ftóchia théli kalopérasi“, hört man in diesen Tagen besonders häufig – zu Deutsch in etwa: „Um die Armut zu ertragen, muss man es sich gut gehen lassen.“

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