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November – wozu die ganzen Trauertage?
Die banalisierte Novembertrauer
Das Ständchen wirkt ein wenig wie eine Verlegenheitsveranstaltung: Es ist schon gut und richtig, einen Feiertag für die Toten zu pflegen, schließlich gibt es jede Menge Verstorbene, deren Andenken wir gern bewahren möchten. Aber irgendwie fehlt die richtige Art des Gedenkens. Wie begeht man so einen Feiertag öffentlich? Zumal einen, der auf einen Sonntag fällt, also ohnehin arbeitsfrei ist, und damit die denkbar schlechtesten Chancen auf Wahrnehmung unter Nicht-Kirchgängern hat?
Diese Frage stellt sich im November gleich zweimal, denn der Sonntag vor Totensonntag ist seit 1952 offizieller Volkstrauertag. Anders als an ersterem geht es am Volkstrauertag nicht um alle Verstorbenen, sondern nur um solche, die durch Krieg und Gewaltherrschaft ihr Leben gelassen haben. Das macht den Volkstrauertag ungleich politischer, deshalb gibt es auch einen Gedenkspruch des Bundespräsidenten, eine Gedenkstunde im Bundestag und eine Kranzniederlegung, man flaggt auf Halbmast.
An der Masse der Bundesbürger droht aber auch dieser Feiertag vorbei zu gehen, so richtig aktiv gedenkt da niemand freiwillig. Wie auch? Es gibt zwar wahrlich genug Kriegstote und gewalttätige Regime auf der Welt, trotzdem gelingt es nicht, den Bogen vom grabesgrau und durch und durch tot anmutenden Volkstrauertag zu den machthungrigen Übeltätern im Hier und Jetzt zu schlagen. Das ist besonders deshalb schade, weil genau dieser Bogen nötig wäre, damit die ganzen Gedenktage den Zweck erfüllen, zu dem sie einmal geschaffen wurden: nämlich den Menschen die Möglichkeit zu geben, aus der Vergangenheit zu lernen.
Fühlen statt Gedenken: Novemberpogrome auf Twitter
Das liest sich dann zum Beispiel am 9. November kurz nach 23 Uhr so: „In Aachen hört Alex Matthes Geräusche in seiner Bäckerei, er vermutet Einbrecher. Tatsächlich ist es die SA, die alles verwüstet.“ Vierzig Minuten später: „Die Synagoge in Fulda wird angezündet.“ Kurz nach 2 Uhr morgens dann unter anderem diese Meldung: „Oelde: Ein Mädchen wird im Schlafanzug auf die Straße getrieben und dort mit Stöcken geschlagen, bis sie zusammenbricht.“
Der Effekt, den diese Mitteilungen in der Twitter-Timeline zwischen den vielen banalen Alltagsmeldungen haben, ist zutiefst verstörend, und genau das ist auch beabsichtigt. Dagegen verblassen nicht nur schulische Geschichtslektionen, sondern auch jeglicher staatlich oder kirchlich verordnete Novembertrauergedenktag. Und schon ist er da, der Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart.
Falls ihr also, liebe Kirchen und staatliche Feiertagsbeauftragte, in Zukunft eure Gedenktage besser nutzen möchtet: Macht die Anlässe der Gedenktage nachvollziehbar, anstatt sie nur in konturlosen Trübsalswolken ungenutzt verdampfen zu lassen! Holt die Trauer ins Leben zurück! Dann klappt es auch mit dem Erinnern und Lernen.