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Rache vor Gericht – der Fall Bachmeier

Der Fall ist in der deutschen Justizgeschichte einzigartig: Die Mutter eines ermordeten Kindes tötet den Täter im Gerichtssaal. Die Öffentlichkeit greift den Vorgang zu einer lebhaften Debatte über Selbstjustiz auf.

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Der 6. März 1981 ist der dritte Prozesstag gegen den mutmaßlichen Kindermörder Klaus Grabowski vor dem Lübecker Schwurgericht. Grabowski ist bereits einschlägig vorbestraft. Dennoch ist er freigekommen: operativ kastriert und mit der Prognose der “geringen Wiederholungsgefahr“ wird er aus der psychiatrischen Betreuung entlassen. Ein Urologe nimmt eine Hormonbehandlung vor.

Dennoch ist Grabowski erneut seinem Trieb erlegen, hat im Mai 1980 die kleine Anna Bachmeier angesprochen, misshandelt und umgebracht. Als ihm dafür der Prozess gemacht wird, haben sich nur wenige Prozessbesucher eingefunden. Die Mutter des toten Kindes, die als Nebenklägerin auftritt, erscheint im Saal. Gerichtsreporter bemerken bereits während der ersten Prozesstage den “kühlen und selbstsicheren Eindruck“, den die ehemalige Gastwirtin hinterlässt. Plötzlich zieht sie eine Pistole aus dem Mantel und feuert acht Schüsse auf den Angeklagten, der auf der Stelle tot ist. In der Öffentlichkeit ist der sensationelle Fall umstritten. Die Reaktionen reichen von völliger Ablehnung bis zu Verständnis für die Tat der Mutter. Innerhalb von einer Woche spenden Bürger fast 100 000 Mark auf das Spendenkonto eines neu gegründeten Unterstützungsvereins für die 31-Jährige.

Der folgende Prozess gegen Marianne Bachmeier ist geprägt vom Versuch, die Persönlichkeit der Angeklagten zu durchleuchten. Die Gutachter sind sich zwar einig über die seelische Ausnahmesituation, werden sich aber nicht einig, ob zur Tatzeit eine Bewusstseinsstörung angenommen werden kann. Das Gericht wandelt schließlich den Mordvorwurf in eine Anklage wegen Totschlags um. Die öffentliche Diskussion hat sich in der Zwischenzeit verlagert auf die Verantwortung der Medien. Die Berichterstattung wird als rücksichtslose Ausbeutung menschlichen Schicksals kritisiert, die auch vor gezielten Indiskretionen und Falschinformationen nicht zurückschrecke. Nach zweijähriger Haft wird Annas Mutter wegen Selbstmordgefahr entlassen. Sie zieht sich nach Palermo auf Sizilien zurück, wo sie als Sterbehelferin arbeitet. 1996 reist sie in ihre Heimatstadt Lübeck zurück, um dort eine Krebserkrankung behandeln zu lassen. Am 17. September 1996 erliegt sie der Krankheit im Alter von 46 Jahren.

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