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100 Jahre Verhaltenstherapie: Mary Cover Jones und die Angst

Vor 100 Jahren begründete Mary Cover Jones die Verhaltenstherapie. Ihre Arbeit legte den Grundstein für eine Methode, die auch heute noch erfolgreich bei der Behandlung psychischer Probleme eingesetzt wird. Aber wie entstand die Verhaltenstherapie? Warum ist Cover Jones nur wenigen ein Begriff? Und bei welchen Beschwerden kann eine Verhaltenstherapie helfen?
SSC, 17.12.2024
Psychotherapeutisches Gespräch

© SDI Productions, iStock

Vor 100 Jahren, also im Jahr 1924, war die damals 27-jährige Mary Cover Jones die letzte Doktorandin des berühmten Psychologen John Broadus Watson. Watson gilt als Begründer des Behaviorismus, der Verhalten durch in der Umwelt ausgelöste Reize und Reaktionen darauf erklärt. Jones baute auf Watsons Arbeit auf und entwickelte eine frühe Form der Verhaltenstherapie, die sich auf die systematische Desensibilisierung von Ängsten konzentriert.

Die Geschichte des kleinen Peter

Den Grundstein für diesen Ansatz legte ein wegweisendes Experiment: der Versuch, die schreckliche Angst des fast drei Jahre alten Peter vor weißen Ratten zu heilen. „Diese Angst bezog sich auf ein Kaninchen, einen Pelzmantel, eine Feder, Watte usw., nicht aber auf Holzklötze und ähnliches Spielzeug“, schreibt Mary Cover Jones in ihrer Studie über den Jungen. Sie überlegte sich, wie sie die Angst von Peter am besten beseitigen könnte.

Cover Jones beschloss daraufhin, dass Peter jeden Tag mit drei anderen Kindern im Labor der Psychologin spielen sollte. Mit von der Partie: ein weißes Kaninchen. Wie sich zuvor nämlich herausgestellt hatte, fürchtete der Junge Kaninchen noch mehr als Ratten. Tolerierte Peter das Kaninchen in einem Käfig mehrere Meter entfernt, während er mit den Kindern spielte, rückte die Versuchsleiterin den Käfig näher.

Symbolbild Gegenkonditionierung
Die Gegenkonditionierung des kleinen Peters beruhte auf einer systematischen Desensibilisierung, In mehreren Schritten wurde dem Jungen, der auf einem Stuhl seine Lieblingsspeise Kekse und Milch verzehrte, ein Kaninchen immer näher gebracht.

© Kaninchen: SDI Productions, iStock

Peter verlernt seine Angst

Nach einiger Zeit sollte Peter in einem Hochstuhl sitzen und Süßes essen, während das Kaninchen im Käfig immer näher an ihn heranrückte: „Die Versuchsleiterin brachte das Kaninchen in einem Drahtkäfig so nah wie möglich heran, ohne eine Reaktion hervorzurufen, die das Essen beeinträchtigen würde“, schreibt Cover Jones. Schrittweise kam Peter dem Kaninchen so nahe, dass er es schließlich sogar liebkoste und an seinen Fingern knabbern ließ.

Dazu hält die Psychologin fest: „Aus den Notizen zu den einzelnen Sitzungen ging hervor, dass es in mehr oder weniger regelmäßigen Schritten eine Verbesserung gab, von fast völligem Schrecken beim Anblick des Kaninchens bis zu einer völlig positiven Reaktion ohne Anzeichen von Störung.“ Peter hatte die Angst vor weißen Kaninchen verlernt.

Keine Beachtung für Cover Jones

Mary Cover Jones‘ Studie über den kleinen Peter erhielt jedoch wenig bis gar keine Beachtung. Aber warum? „Jones zollte die meiste Anerkennung den Männern, die vor ihr die Grundlagen gelegt hatten, und sie gab ihrer Behandlung nie einen Namen“, erklärt Psychologe Georg Alpers von der Universität Mannheim. „Es gab eine starke Konkurrenz durch bereits viel besser etablierte Psychotherapieschulen, deren Prinzip, eher die zugrunde liegenden psychodynamischen Zustände als das beobachtete Verhalten zu behandeln, in Frage stellte.“

Heute jedoch gilt das Experiment von Cover Jones als Ursprung der Verhaltenstherapie. Wie in der Studie, in der Peter seine Angst vor weißen Kaninchen verlernt hat, basiert die Verhaltenstherapie auf dem Gedanken, dass wir persönliches und problematisches Verhalten erlernen und auch wieder verlernen können. Anders als bei der Psychoanalyse geht es also darum, Probleme durch neue Denk- und Verhaltensweisen zu bewältigen und nicht nach ursächlichen Ereignissen tief in der Vergangenheit zu suchen.

Die Verhaltenstherapie kommt unter anderem bei Angststörungen, Depressionen und Essstörungen, aber auch bei ADHS oder Suchterkrankungen zum Einsatz. Die Erfolgsrate liegt zzwischen 55 und 80 Prozent.

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